Margaret Thatchers Söhne im Geist

WAHLEN Bei Großbritanniens Wahlen könnte diese Woche ein konservativ-liberales Reformbündnis gegen eine verbrauchte Linksregierung punkten. Oder doch nicht?

 Der Termin: Am 6. Mai finden in Großbritannien Parlamentswahlen statt. Erstmals sind die drei Parteichefs Gordon Brown, David Cameron und Nick Clegg in Fernsehduellen angetreten. In Umfragen liegen sie seither gleichauf. Am wahrscheinlichsten gilt derzeit eine von den Liberaldemokraten tolerierte konservative Minderheitsregierung.

 Das Wahlsystem: Wegen des britischen Mehrheitswahlrechts spiegeln die Wahlergebnisse nur gewonnene Wahlkreise wider, nicht Stimmanteile insgesamt. Bei der letzten Wahl 2005 siegte Labour mit 356 der 646 Sitze, obwohl sie nur 35,3 Prozent der Stimmen errangen. Dieses Mal könnten sie zwar die meisten Stimmen erringen, aber die Wahl verlieren.

VON DOMINIC JOHNSON

Sie sind beide 43 Jahre alt, sie sind Produkt der britischen Bildungselite und Abkömmlinge der europäischen Aristokratie, sie sind weitläufig miteinander verwandt, sehen sich gar ähnlich, und sie wollen beide gleichzeitig an die Macht: David Cameron und Nick Clegg. Der eine ist Chef der konservativen Partei, der andere Chef der Liberaldemokraten in Großbritannien. Die beiden stehen bei den britischen Parlamentswahlen am 6. Mai vor einem Sieg über eine verbrauchte Labour-Regierung. Eigentlich.

Denn noch nie seit fast achtzig Jahren war der Ausgang einer Wahl in Großbritannien so offen wie jetzt, obwohl eine Regierung selten so diskreditiert in der Öffentlichkeit war wie die des Nochpremierministers Gordon Brown. Aber gerade weil es zwei gibt, die ihn ablösen wollen, zwei Gleiche, die sich gegenseitig im Weg stehen, könnten sie ihren Sieg in letzter Sekunde vermasseln.

Bis vor wenigen Monaten schien alles klar. Von Tony Blairs „New Labour“, das 1997 den Briten nach achtzehn Jahren freudloser konservativer Herrschaft eine neue Morgenröte versprochen hatte, war wenig mehr geblieben als gebrochene Versprechen, blutige Kriegseinsätze, Intrigen und ein ungeliebter Blair-Nachfolger namens Brown.

Als David Cameron 2005 die Führung der Konservativen übernahm, stand er für einen Neuanfang. Mit ihm betrat eine Generation die politische Bühne, die es nicht mehr nötig hat, sich über althergebrachte Klassenhierarchien und ökonomische Zusammenhänge zu definieren. Bei der Cameron-Oberschicht in Londons Jetset ist der Snobismus von früher einer neuen Ungezwungenheit gewichen: Könnte nicht einfach jeder mehr aus seinem Leben machen? Sind die Bürger nicht allesamt fähiger, als der Staat denkt?

Politisch geprägt wurden die „Cameroons“, wie sich die Cameron-Modernisierer nennen, in der Glanzzeit der Thatcher-Regierung Mitte der 1980er-Jahre. Damals waren junge Konservative Hedonisten und libertäre Provokateure. Manche schafften es, im gleichen Atemzug die südafrikanische Apartheid zu verteidigen und die Legalisierung aller Drogen zu fordern, aber meist schien es, als würden sie solche Dinge nicht aus Überzeugung sagen, sondern einfach um andere zu ärgern. Die Mehrheit wollte freie Hand zum Reichwerden und Spaß. Sie gaben sich dem Genuss und dem schönen Leben hin. Büffelei und Theorie gab es nur bei den Linken. Die lieferten sich verbissene Grabenkämpfe um den wahren Sozialismus, um Schaltstellen in der Studentengewerkschaft und der ideenlosen Labour-Partei.

An ihrer Hochnäsigkeit sind viele junge Konservative gescheitert. Sie verstanden es nie, andere zu überzeugen; es interessierte sie auch nicht. Cameron ist eine Ausnahme, und das förderte seinen politischen Aufstieg. Aber seine Fähigkeit, auf andere zuzugehen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, gehört nicht zum Naturell seines Umfelds. Dies erklärt die erstaunliche Mischung aus Selbstsicherheit und Lustlosigkeit, die den konservativen Wahlkampf 2010 doch noch ins Straucheln gebracht hat. Der neue Shootingstar ist nicht David Cameron, sondern Nick Clegg, der Liberaldemokrat.

Die beiden Männer ergänzen sich perfekt. Cameron ging auf das Elite-Internat Eton, Clegg auf das Elite-Internat Westminister. Cameron studierte in Oxford, Clegg in Cambridge. Das sind feine Unterschiede. Eton und Oxford steht für Erfolg ohne Anstrengung; man ist schon oben und muss nur lernen, sich angemessen zu verhalten und zu vernetzen. Westminster und Cambridge steht für intellektuelle Dominanz; man meint, alle zu durchschauen und alles verändern zu können. Oxford produziert Machtinstinkt, Cambridge Zukunftspläne. Oxford fragt: Wer bin ich? Cambridge fragt: Was kann ich?

An ihrer Hochnäsigkeit sind viele junge Konservative gescheitert

Margaret Thatcher und Tony Blair studierten beide in Oxford; Cambridge hat in jüngster Zeit vor allem asiatische Regierungschefs hervorgebracht. Die ambitioniertesten Studenten in Cambridge während der Thatcher-Ära waren skeptische Technokraten, Umkrempler der britischen Verhältnisse im Wartestand. Tribale Loyalität zu einer Partei stört dabei; Parteien sind Mittel zum Zweck, nicht umgekehrt. Man wandert quer durch die Lager. Clegg war als Student Konservativer.

Ein Bündnis von Cameron und Clegg zur Reform des maroden britischen politischen Systems wäre die logische Weiterentwicklung der einstigen Grundidee von New Labour. Diese begreift Regierungsverantwortung nicht als Bestätigung von Lagerdenken, sondern als Chance zur Umgestaltung bestehender Verhältnisse. Die heutige Labour-Partei als Verein der Verlierer, der Industriestädte deindustrialisierte und den öffentlichen Dienst in den Bankrott führte, kann da nicht mithalten.

Labours einzige Chance, am Ende doch als Sieger dazustehen, liegt in den Winkelzügen des britischen Wahlrechts, das lediglich Wahlkreise kennt und keine Parteilisten. Das bevorzugt Parteien und Politiker mit starker lokaler Verwurzelung. Die Konservativen dominieren Südengland, die Labour-Partei den Norden, Schottland und Wales. Die Liberaldemokraten wiederum sind überall Zweiter. Labour profitiert davon in besonderem Maße, weil in den sozial schwachen Labour-Hochburgen die Wahlbeteiligung meist deutlich niedriger ist als woanders.

Aber die Politikverdrossenheit, die in Großbritannien nach dem Spendenskandal im vergangenen Jahr offensichtlich wurde, schreit geradezu nach ungeordneten politischen Verhältnissen. Einer der häufigsten Sätze, den britische Politiker im Wahlkampf zu hören kriegen, ist der: „Ihr seid doch alle gleich“. Bei Cameron und Clegg stimmt das sogar.