Die Inder kommen

AUS DELHI UND BANGALORE SVEN HANSEN

„Wir sind heute die am schnellsten wachsende freie Marktwirtschaft der Welt“, sagt Indiens Minister für Handel und Industrie, Kamal Nath. Er verweist auf ein Wachstum von jeweils um die 8 Prozent in den letzten drei Jahren, einen Anstieg der Exporte um 23 Prozent im vergangenen Jahr und der Investitionsrate auf 30 Prozent. Das Wachstum wird von starker Binnennachfrage getragen, die von der Mittelschicht gestützt wird. Diese wird bei niedriger, nicht mit westlichen Maßstäben zu vergleichender Bemessungsgrundlage auf bis zu 300 Millionen Menschen beziffert. Schon träumt Ministerpräsident Manmohan Singh öffentlich von 10 Prozent Wachstum.

Auch die Börse boomt

Der heutige Boom ist das Resultat von 1991 auf dem Höhepunkt einer Krise eingeleiteten Wirtschaftsreformen. Ihr Architekt war der damalige Finanzminister Singh. Die Liberalisierung und Privatisierung der bis dato stark regulierten Wirtschaft führte zum Boom bei Dienstleistungen. Er bescherte Indien gigantische Zuwächse in der Softwarebranche und machte es zum Nutznießer des Outsourcing ganzer Geschäftsbereiche, vor allem nordamerikanischer Unternehmen. Inzwischen boomen auch höherwertige Dienstleistungen und wird zunehmend Geld in der sich modernisierenden Industrie verdient. Das Wachstum stützen Direktinvestitionen aus dem Ausland sowie ein Aktienboom. Seit den letzten Parlamentswahlen im April 2004 stieg der Sensex an Bombays Börse von 5.000 auf 12.000 Punkte.

Indische Politiker und Geschäftsleute strahlen große Zuversicht und ein manchmal schon an Arroganz grenzendes Selbstbewusstsein aus. „India everywhere“, lautet ihre Botschaft, die sie zurzeit mit großem Werbeaufwand in die Welt hinaustragen. Damit wollen sie ihr Land im bisher auf China fixierten Bewusstsein westlicher Manager verankern.

Indiens Politiker stützen sich dabei auf einen innerelitären Konsens. „Seit 1991 haben alle indischen Regierungen im Prinzip die gleiche Wirtschaftspolitik gemacht“, sagt Arun Shourie von der hindunationalistischen BJP. Er war bis 2004 Privatisierungsminister. Nachdem die Kongress-Partei überraschend die Wahlen gewann und seitdem mit Tolerierung der Kommunisten regiert, schaffte sie zwar das Privatisierungsministerium ab. Doch die Wirtschaftspolitik änderte sich kaum, bestätigt Sunil Munjal. Er ist Chef von Hero, des weltgrößten Fahrradherstellers.

Munjal nennt als weiteren Grund für seinen Optimismus Indiens junge Bevölkerung: „54 Prozent sind unter 25 Jahre alt.“ Galt das hohe Bevölkerungswachstum in dem Land mit knapp 1,1 Milliarden Einwohnern lange als Nachteil, sehen die Inder es heute als Vorteil, der sie künftig zu China wirtschaftlich aufschließen lassen könnte. Denn Indien erhält so einen wachsenden und gut ausgebildeten Arbeitskräftepool. Dass die Regierung pro Jahr zehn Millionen neue Jobs schaffen muss, schreckt Munjal nicht. Vielmehr sieht er die Arbeitskräfte in China, Nordamerika und Europa rapide altern. Die Zeit arbeite für Indien.

Die Eisenbahn ist veraltet

Munjal hat andere Sorgen: „Unser größtes Problem ist die Infrastruktur.“ Schon heute können Indiens Flughäfen den wachsenden Luftverkehr kaum noch bewältigen. Das Straßennetz ist zu dünn, die Eisenbahn veraltet. Und die Energieversorgung kommt mit der wachsenden Nachfrage nicht mit. „In den nächsten 30 Jahren muss Indien seine Stomerzeugungskapazität alle zehn Jahre verdoppeln“, prognostiziert Energiestaatssekretär J. V. Shahi. Die Regierung hofft auf Investitionen ausländischer Konzerne – auch in die Atomkraft. Proteste gegen umstrittene Energieprojekte wie den Narmada-Staudamm passen nicht ins Bild.

Wie groß Indiens Probleme selbst in den Boomregionen sind, zeigt sich täglich in der Softwaremetropole Bangalore. Der Verkehrsstau beginnt direkt am Ausgang des viel zu kleinen Flughafengebäudes. Mehrfach am Tag fällt in der Stadt mit sechs Millionen Einwohnern der Strom aus. Erinnern die sterilen Cyberparks der großen Softwarekonzerne am Stadtrand als moderne Oasen der Globalisierung eher an Kalifornien, herrschen direkt vor ihren Toren indisches Chaos und erschreckende Armut.

„Indiens gesamte IT-Branche beschäftigt eine Million Menschen, doch wir haben landesweit 690 Millionen Arbeitskräfte“, sagt die Wirtschaftsprofessorin Jayati Ghosh von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi. „Die meisten indischen Medien sind ganz verrückt wegen des Wirtschaftswachstums. Doch betrifft es nur einige Sektoren. Wir haben eine massive Krise im Agrarsektor.“ Von dem seien 62 Prozent der Beschäftigten abhängig.

Indien stellt etwa ein Drittel der weltweiten Softwareingenieure, aber auch ein Viertel der auf dem Globus hungernden Menschen. Knapp 300 Millionen Inder leben unterhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag. Als die BJP 2004 mit dem Slogan „India shining“ Wahlkampf machte, wurden die Hindunationalisten von der Landbevölkerung prompt abgewählt.

„Seitdem ist klar, dass auf dem Land etwas geschehen muss“, meint Ghosh. Sie war Mitglied einer Regierungskommission, die ländliche Armut im Bundesstaat Andhra Pradesh untersuchte. „Bei den ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung ging der Kalorienverbrauch um 15 Prozent zurück“, sagt sie. „In manchen ländlichen Regionen ist die Wirtschaft völlig zusammengebrochen.“ Auch sei die wachsende Zahl von Selbstmorden von Bauern erschreckend. Nach Polizeiangaben stiegen diese allein im Bundesstaat Maharashtra von 1.100 im Jahr 1995 auf 4.100 in 2004. Vielen Bauern bleibt nur die Migration in die Städte. Dort wuchern die Slums und der informelle Sektor.

Ein Drittel Analphabeten

Ghosh hinterfragt auch Indiens Bildungssystem. Das produziert zwar jedes Jahr bis zu 300.000 englischsprachige Ingenieure. „Doch 20 Prozent unserer Schulen haben kein Gebäude und 40 Prozent nur einen Lehrer“, sagt Ghosh. Ein Drittel der Inder sind Analphabeten.

„Die Krise auf dem Land ist nicht Ergebnis der Globalisierung, sondern der Vernachlässigung durch die Politik“, meint der stellvertretende Vorsitzende der Planungskommission, Montek Singh Ahluwalia. Er zählt zu den Neoliberalen in der Regierung. Die Hälfte der Bauernselbstmorde geht seiner Meinung nach auf Mängel im Bankensystem zurück, das Bauern zu privaten Zinswucherern treibe. Doch das größte Problem sei, dass die Industrieländer keinen fairen Wettbewerb zuließen. „Würden die Industrieländer ihre Agrarsubventionen reduzieren, wären Indiens Bauern in den meisten Bereichen wettbewerbsfähig“, meint Ahluwalia.

Im Februar startete die vom Kongress geführte Regierung ein Beschäftigungsprogramm für ländliche Armutsregionen. Ob das im korruptionsgeplagten Land mehr ist als ein Alibi einer an der Ober- und Mittelschicht orientierten Wirtschaftspolitik muss sich noch zeigen. Regierungskritiker wie Ghosh halten das Programm trotz mancher Schwächen für geeignet, die Situation auf dem Land zu verbessern. Sonst dürfte der Kongress-Partei trotz des Booms in manchen Sektoren bei Wahlen das gleiche Schicksal wie den Hindunationalisten 2004 drohen.