„Ich bin nicht mehr auf Siege fixiert“

„Ich spiele nicht Fußball, um an die Börse zu gehen und zwei Prozent zu gewinnen, weil ich gegen Marseille gewonnen habe“

MODERATION PETER UNFRIED

Daniel Cohn-Bendit: Michel, was liebst du am heutigen Fußball?

Michel Platini: Fußball ist ein großartiges Spiel, bei dem die Spieler Talent haben müssen, um sich in diesem Spiel auszudrücken. Es ist ein spannendes und schönes Spiel.

Ist es dir nicht zu körperlich geworden?

Das Körperliche ist dem Talent immer überlegen. Aber ein Spieler, der mehr als die körperlichen Fähigkeiten aufzuweisen hat, wird besser als die anderen. Nein, ich sehe seit drei, vier Jahren eine sehr positive Entwicklung hin zur Technik im Fußball, ehrlich. Ich bin eigentlich sonst eher Nostalgiker, nach dem Motto „Früher war alles besser“, aber das stimmt hier nicht.

Siehst du das tatsächlich so?

Ja. Unter den großen Vereinen wie Real Madrid, da gibt es keinen, der nicht mit mindestens drei technisch starken Spielern im Mittelfeld agiert. Diese technisch guten Mittelfeldspieler geben dem Fußball Auftrieb. Man sieht sie in allen großen Mannschaften der Champions League: bei Bayern München mit Ballack, Chelsea mit Lampard, Barcelona mit Ronaldinho, Real Madrid mit Zidane. Heute ist die technische Qualität viel besser als vor zehn oder fünfzehn Jahren.

Ich denke, dass diese technische Verbesserung durch die Internationalisierung der großen Mannschaften kommt. Das ist andererseits wieder schlecht für den einheimischen Fußball.

Die Qualität entsteht, weil die Trainer gute Spieler einsetzen. Damit meine ich Spieler, die gute Fußballer sind. Als ich ein Junge war, sagte mein Vater zu mir: Michel, der Ball ist schneller als du. Du musst mit dem Ball spielen. Das ist Fußball. Wenn ich Leute sehen will, die schnell rennen, dann schaue ich mir die Olympischen Spiele an. Und nicht die WM. Heute gibt es Teams, die Spieler haben, die nicht mit dem Ball spielen können und trotzdem Fußballer sind.

Aber Michel, da widersprichst du dir doch. Eben hast du gesagt, dass der Fußball besser geworden sei.

Ich sagte, es gibt einige Mannschaften mit Spielern, die nicht mit dem Ball spielen können. Zu meiner Zeit wollten wir nichts mit denen zu tun haben, die nicht mit dem Ball spielen konnten. Trotzdem ist der Fußball heute besser als in den letzten Jahren.

Wenn man heute Spiele aus den Siebzigern sieht, hat man den Eindruck, die Schnelligkeit der Spieler hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdreifacht.

Nein, ich würde sagen, dass die Trainer Spieler einsetzen, die die Spielschnelligkeit im Mittelfeld verdreifacht haben. Wenn die Trainer keine Techniker ins Mittelfeld stellen, sondern nur Spieler mit Körpereinsatz, dann werden die Spiele immer schlechter. Aber die Trainer wollen nicht gefeuert werden, also stellen sie eine Mannschaft auf, um das Spiel zu gewinnen – oder um es nicht zu verlieren. Aber ich denke nicht so.

Wie sieht dein Fußball aus?

Ich bin mit fünfzig nicht mehr auf den Sieg fixiert. Ich will einen Fußball, bei dem man technische Kniffe sieht, bei dem man eine Taktik erkennt, bei dem du künstlerischen Seiten entdecken kannst. Es interessiert mich nicht, wer gewinnt. Mich interessieren die Emotionen, die die Fußballer durch ihr Spiel vermitteln. Das ist es doch, was die Popularität des Fußballs ausmacht.

Du sagst, der Fußball gehöre den Spielern. Bewegen im Spitzenfußball nicht längst Trainer wie José Mourinho selbst Weltstars an ihren Fäden?

Ich mag Mourinho als Menschen und als Trainer, und er entscheidet über die Taktik, die er benutzen will. Aber wir sind nicht auf der gleichen Wellenlänge. Ob Chelsea gegen Barcelona gewinnt oder umgekehrt? Interessiert mich nicht. Ich möchte, dass der Fußball schön ist. Die Jungen wollen Leute wie Ronaldinho sehen. Deshalb ist der Fußball so populär, deshalb kauft das Fernsehen die Rechte. Oder glaubst du, das sind nur Menschenfreunde, die den Fußball so mögen?

Gut oder schlecht?

Ich bin Mitglied des Fifa-Exekutivkomitees, und wir können mit dem Geld aus den WM-Rechten Burundi oder Benin Geld geben, um dort die Kinder Fußball spielen lassen zu können. Das ist der Unterschied zwischen der Fifa und den Vereinen. Die zeigen keine Solidarität. Wenn sie Geld haben, dann geben sie es den Spielern. Ich verstehe das. Aber wir entwickeln den Fußball weiter. Und jetzt sehen wir, dass Togo oder Trinidad & Tobago Fußball spielen können und zur WM fahren. Das gab es früher nicht.

Spieltest du als Spieler auch für dieses Gefühl, das du beschwörst?

Als Spieler spielt man nicht wegen des Gefühls, als Spieler will man gewinnen. Als ich zwanzig war, habe ich gespielt, um zu gewinnen. Heute möchte ich, dass die WM in Deutschland große Gefühle beschert.

Sind wir auf dem richtigen Weg? Niemals war der Fußball so globalisiert. Mit einer Ausnahme spielen fast alle Brasilianer in Europa, genau wie die Afrikaner. Es gibt praktisch keine der großen europäischen Mannschaften, die einen großen Mittelfeldspieler aus dem eigenen Land hat. Ballack bei München war einer der letzten.

Aber dafür bist du doch verantwortlich, Dany. Du bist der Politiker. Du bist es, der durch die Europäische Kommission die Freizügigkeit der Fußballspieler wollte. Das hat die Veränderungen der letzen Jahre ausgelöst. Wollen Vereine an die Börse gehen, sagt die Europäische Kommission, dass sie das aufgrund der Freizügigkeit des Kapitals auch dürfen. Entschuldigung, aber im Sport gibt es andere Werte als die Freizügigkeit des Kapitals. Das finde ich nicht gut.

Gut. Dann übernehme ich die Verantwortung dafür. Aber den Londoner Fans von Chelsea ist es doch egal, ob ein Engländer in der Mannschaft ist oder nicht.

Nein. So kann man sich nicht mehr mit einem Verein identifizieren. Das russische Publikum von Dynamo Moskau kommt nicht mehr zu den Spielen, weil elf Portugiesen in der Mannschaft sind. Für die Fans ist das keine Moskauer Mannschaft mehr. Gut, wir leben heute in einem vereinten Europa. Ich verstehe, dass Spieler nach Europa kommen wollen. Aber ich sehe nicht ein, warum ich Fan eines Vereins sein soll, in dem niemand aus meiner Region spielt.

Du sagst also: Der Pariser Fußball den Parisern, der französische Fußball den Franzosen.

Nein, ich sage nur, dass über die Entwicklung des Fußballs, seine Bedeutung und die Art, wie er organisiert werden soll, nachgedacht werden sollte. Eine Vorstellung der G14 …

des Zusammenschlusses der 18 ihrer Meinung nach wichtigsten Klubs in Europa …

… ist es ja, eine geschlossene europäische Liga zu machen.

Diese Mannschaften würden dann nicht mehr in den nationalen Meisterschaften spielen?

Das wollten sie, ja. Das wäre das Ende des nationalen Fußballs.

Das wäre das Ende des Fußballs. Bayerns Vorstandsvorsitzender und G-14-Vize Karl-Heinz Rummenigge hat über dich gesagt, du seist ein Fußball-Sozialist.

Er hat gesagt, ich bin ein Kommunist.

Er hat Sozialist-Kommunist gesagt. Bist du nun Idealist oder Kommunist?

Ich habe eine Fußball-Philosophie. Wenn ich mich heute in den Institutionen engagiere, dann um meine Philosophie zu verteidigen. Der Fußball muss für Werte stehen. Das hat nichts mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun. Ich spiele nicht Fußball, um an die Börse zu gehen und zwei Prozent zu gewinnen, weil ich gegen Marseille gewonnen habe. Das sind Dinge, die ich nicht verstehe. Ich habe ja zunächst auch nicht Fußball gespielt, um zu gewinnen, ich habe Fußball gespielt, weil ich Zeit mit meinen Freunden verbracht habe. Was war denn Fußball in den Siebzigern?

Was?

Das größte Babysitting-Unternehmen der Welt. Man spielte, man gewann, man verlor, man kam wieder. Heute gibt es junge Leute, die Fußball nicht mögen, aber trotzdem spielen, weil man Geld verdienen kann.

Du bist auch zu Juventus gegangen, als sie dir viel Geld boten.

Aber das war eine Folge der Tatsache, dass ich ein guter Fußballer war. Als ich mit siebzehn meinen ersten Vertrag unterschrieben habe, bekam ich 300 Francs, also 60 Euro. Das war 1972. Da habe ich gesagt: Sie geben mir Geld, damit ich Fußball spiele? Das wusste ich nicht.

Als Paul Breitner angefangen hat zu spielen, hat er 800 Mark verdient, das sind etwa 400 Euro.

Jemand muss Paul mal sagen, dass er mehr verdiente als wir. Aber das war vielleicht, weil er einen Bart hatte.

Sprechen wir von deinem Aufeinandertreffen mit Breitner, den berühmten WM-Halbfinalspielen zwischen Deutschland und Frankreich von 1982 und 1986. Ist das für dich eine schlimme Erinnerung?

Nein, im Gegenteil. Das sind sicher die schönsten Erinnerungen meiner Karriere.

Frankreich hat 1982 verloren und 1986 noch mal. Wie kann das schön sein?

Weil ich speziell in Sevilla 1982 alle Emotionen durchlebt habe, die man während eines Fußballspiels haben kann. Das waren zwei großartige Stunden mit allen Gefühlen. Das geht von Sympathie über Freude und endet bei Hass. Alles, was du willst. Deshalb habe ich heute diese Philosophie. Ich habe alles versucht, um zu gewinnen. Aber ich habe nicht gewonnen, das ist eben so. Aber mir bleiben die Emotionen dieses Spiels. Diese Emotionen sind viel stärker, als wenn ich sagen würde: Ich habe verloren.

Wenn du Hass sagst, meinst du Hass darauf, wie ihr Battiston verloren habt?

Hass darauf, dass Schumacher des Platzes hätte verwiesen werden müssen, aber der Schiedsrichter nichts gemacht hat. Das hätte diese WM vielleicht anders enden lassen.

Du hast häufiger beklagt, dass der Schiedsrichter euch damals benachteiligt hat.

Ja, manchmal haben sie mich bevorzugt, aber bei diesen Spielen hat er uns benachteiligt.

Aber du bist gegen die Videoüberwachung?

Ich bin gegen den Videoschiedsrichter.

Wo ist der Unterschied?

Videoschiedsrichter ist, wenn es ein Abseits gibt und man unterbricht das Spiel und schaut auf einem Videoband nach, ob es wirklich Abseits war. Die Videoüberwachung ermöglicht im Nachhinein eine disziplinäre Kontrolle. Das finde ich in Ordnung. Aber wenn ein Video schiedsrichtert, wäre das das Ende der Schiedsrichter. Der Fußball muss menschlich bleiben.

Ist es dir tatsächlich egal, wer die WM gewinnt, Michel?

Wenn Frankreich die WM gewinnen würde, dann würde ich mich als Franzose sehr freuen. Aber wenn Brasilien gewinnt, dann freue ich mich genauso.

Warum?

Weil Brasilien großartige Spieler hat. Das ist das beste Team der letzten zwanzig oder dreißig Jahre. Ich bin zwar genau wie du Europäer, aber ich weiß nicht, warum Frankreich oder Deutschland gewinnen sollten.

Du hast Recht. Wenn Brasilien gewinnt, dann bringt das den Fußball voran. Aber es kann auch sein, dass nicht die beste Mannschaft die WM gewinnt. Das haben die Deutschen mehrmals gezeigt.

Genau. Und die Franzosen haben 1982 und 1986 gezeigt, dass der Beste nicht gewinnt.