„Nicht engelrein“

FUSSBALL Der Lehrerausbilder Ralph Köhnen über die Nichtnominierung von Kevin Kuranyi für die WM

■ lehrt als Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Ruhr-Uni Bochum und bildet dort Lehrer aus.

taz: Herr Köhnen, hat der Bundestrainer eine pädagogische Aufgabe?

Ralph Köhnen: Nicht im engen Sinne – alle Beteiligten sind schließlich volljährig. Dennoch, ein Bundestrainer sollte weniger „erziehen“ als vielmehr „bilden“. Er sollte Spielern Mittel bereitstellen, um sich auszudrücken, mit schwierigen Situationen umzugehen, oder ihren Verhaltensweisen auf und um den Platz einen Stil geben, der dem künstlerischen wie dem mittlerweile geforderten Vorbildstatus des Fußballerdaseins gerecht wird.

Ist Löw seiner Pflicht gegenüber Kuranyi nachgekommen?

Dass die Suspendierung vom Oktober 2008 keine pädagogische Funktion haben kann, wird aus ihrer Unverhältnismäßigkeit deutlich. Wollte der Bundestrainer ernsthaft pädagogisches Verhalten reklamieren, hätte er dessen bildsame Funktion nachweisen müssen. Es ist vor allem mit der abschreckenden Funktion der Strafe argumentiert worden.

Wie beurteilen Sie als Pädagoge die Absage an Kuranyi?

Die aktuelle Absage bezieht sich auf das Leistungsniveau Kuranyis. Aber der Rauswurf 2008, der erst im April 2010 von den DFB-Verantwortlichen infrage gestellt wurde, hatte disziplinarische Gründe. Deren Überzeugungskraft erodierte offenbar auch für den DFB unter dem Eindruck der starken Saison Kuranyis. Damit hat man sich ein doppeltes Problem bereitet: den anfänglich finalen Charakter der Strafe einerseits und den inkonsequenten Umgang damit.

Was für ein Bild ergibt sich dadurch für Kinder?

Vorbilder müssen nicht engelrein sein und sollten nicht einfach imitiert werden – kritisches Bewusstsein ist wichtiger. Und lernen lässt sich auch an ihren Fehlern, das gilt für die Schulpädagogik wie für die Erwachsenenpsychologie. Unsere Fußballgeschichte könnte eine Bildungsfunktion nur bekommen, wenn man auf die Moral verzichtet, die da heißt: Verhalte dich stets konform. Vielmehr müssten Handlungsalternativen, Änderungs- und Reifeprozesse sichtbar werden – die Kuranyi ja durchlaufen hat – und damit auch Wege zur Konfliktlösung. Ideen und Kreativität sind dringend gefragt.

INTERVIEW: JAN SCHEPER

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