Das große Gähnen

Langeweile im Klassenzimmer ist ein verbreitetes Phänomen. In der Lehrerausbildung wird zu stark auf rein fachliche Inhalte gesetzt. Aber wie ein Bezug zu den Schülern hergestellt wird, lernen die angehenden Pädagogen nur selten

VON ANJA DILK

Endlose Stunden. Guten Tag, Bücher raus, Rechenhefte auf den Tisch. Die Kreide quietscht über die Tafel, Vektoren türmen sich über Zahlen, Strichen, Zeichen. Die Masse duckt sich im Frage-Antwort-Pingpong zwischen Lehrer und Mathefreaks. Nie entstanden so viele Verzierungen, Strichmännchen und kratzbürstige Lehrerporträts im Schulbuch wie in diesen immer gleichen 45 Minuten Mathe. „Eine Tortur. Unverständlich, einförmig, öde“, sagt Sven Hilmar. Neun Jahre quälte sich der heute 35-Jährige durch den Zahlenbrei. „Gelernt habe ich fast nichts. Heute würde ich gerne mehr Mathe können. Aber damals bin ich fast erstickt vor Langeweile.“

Sven Hilmar ist kein Einzelfall. Das große Gähnen in den Klassenzimmern will nicht verschwinden. Trotz aller Reformdebatten und wohl meinender Innovationen, trotz theoretischer Erkenntnisse und, natürlich, oft spannenden Unterrichts in der Republik – die Langeweile gehört immer wieder zum schulischen Alltag der Kids von Kiel bis München, von Köln bis Rügen. Zwar kritisiert die didaktische Forschung schon lange die meist kognitive Ausrichtung des Unterrichts, „statt den ganzen Menschen mit seinen Sinneserfahrungen, seiner Fantasie, seinem Denken anzusprechen“, wie es der Didaktiker Kasper H. Spinner formuliert. Doch die Praxis zieht zu selten Konsequenzen.

Die Folge: das „Langeweile-Syndrom“. So nennen die Didaktiker Hilbert Meyer und Werner Jank den Circulus vitiosus, der daraus entsteht. Bei einem lehrerzentrierten Unterricht verlieren die Schüler das Interesse, das wiederum stresst den Lehrer, der fürchtet seinen Stoff nicht gemäß Lernplan durchziehen zu können, weshalb er ihn noch mehr lehrerzentriert gestaltet, als er sich bei der Vorbereitung vorgenommen hatte, und so weiter. „Im alltäglichen Schulbetrieb besteht die Gefahr einer sich in Wechselwirkungen verstärkenden Schüler-Langeweile und Lehrer-Hektik.“

Das Internet ist voll von Dokumenten dieser Langeweile. Im „forum.achtziger.de“ tauschen sich Expennäler seitenlang über Strategien gegen die Ödnis aus. Himmel und Hölle basteln, Panini-Bildchen sammeln, Blasrohrschießen mit leeren Tintenkillerröhren.

„Die Langeweile in den Schulen hat zugenommen“, sagt der Hamburger Schulentwicklungsforscher Peter Struck, Professor für Pädagogik an der Universität der Hansestadt. „Kinder wachsen heute mit starken multimedialen Reizen und sehr viel Action auf, durch die sich andere Hirnvernetzungen entwickeln. Mit dieser außerschulischen Konkurrenz kann die Schule nicht mehr mithalten.“ Gerade bei Gymnasiasten sei das derzeit zu beobachten. Vor allem gute 12.-Klässler würden seit einiger Zeit der „scheißlangweiligen Schule“ den Rücken kehren, weil sie überzeugt seien, draußen mehr lernen zu können. Etwas besser, so Struck, kommt die Schule bei Sonder- und Hauptschülern weg: „Viele von ihnen kommen aus desolaten Verhältnissen. Im Vergleich dazu bietet die Schule Abwechslung, die Gelegenheit, Freunde zu treffen, auch ist der Unterricht an den Hauptschulen oft noch praxisorientierter als an den Gymnasien.“

Der Bildungsforscher Jürgen Rekus, Professor für allgemeine Pädagogik an der Universität Karlsruhe, hat sich intensiv mit dem Thema Langeweile befasst. Langeweile definiert er als das Gegenteil von Aktivität, als Nichtstun. Knackpunkt dabei: Ob sich ein Schüler langweilt, liege nicht an der Sache, also am Fach, es liege auch nicht am Schüler selbst. Sondern an seinem Verhältnis zu der Sache. „Unterricht muss daher nicht mit den Sachen, dem Fachlichen, beginnen, sondern mit den Schülern. Sein Ziel darf nicht die Darstellung von Sachverhalten sein, sondern die Schüler zur Aktivität zu bringen.“ Wo aber Schüler den Eindruck haben, das, was der Lehrer vorne erzählt, hat nichts mit ihnen und ihrer Lebenswelt zu tun, kann das kaum gelingen. Was Caesars Feldzüge oder die zweite Ableitung von x mit einem Großstadtkid 2005 zu tun haben sollen, erschließt sich nicht unmittelbar. Rekus: „Ein Verweis auf die Anforderungen des nationalen Bildungsstandards hilft da gar nichts. Man kann die Schüler nur motivieren, indem man die Unterrichtsinhalte anschaulich macht.“

Beispiel Sachkundeunterricht in der Grundschule. Thema: der Maulwurf. Biobuch, Seite 20, drei Abbildungen, eine halbe Seite Text. Warum sollten sich Stadtkinder neugierig darauf stürzen? Warum sollten sie sich für etwas interessieren, das sie bestenfalls von einer kurzen Landpartie kennen? „Wenn Sie aber für die Schüler einen präparierten Maulwurf mit in den Unterricht bringen und ihn streicheln lassen, sieht das ganz anders aus“, sagt Rekus. „Die Schüler werden ihn wie eine Katze von vorne nach hinten streicheln. Also sollen sie ihn auch von hinten nach vorne streicheln. Die Schüler merken: Das geht genauso – im Gegensatz zur Katze. Warum? Weil der Maulwurf wieder rückwärts aus seinen engen Gängen herauskrabbeln muss. Würde sich das Fell aufstellen, ginge das nicht gut. Auf so einem Weg stellen die Schüler selbst ein Verhältnis zu dem Unterrichtsgegenstand her. Der Maulwurf bedeutet etwas für sie. Solche aktivierenden Zugänge lassen sich auf jeder Klassenstufe herstellen, in jedem Fach.“

Es besteht gewaltiger Forschungsbedarf. Doch während seit der Pisa-Studie Millionen in Evaluationen und ergebnisorientierte Systemforschung fließen, ist die Erforschung des Unterrichts selbst in den Hintergrund getreten. „Vor lauter Pisa-Hysterie interessiert das in Deutschland zurzeit kaum jemanden“, sagt Rekus. „Dabei führt einzig und allein ein guter Unterricht zu guten Ergebnissen.“

Entsprechend nebensächlich ist traditionell die didaktische und pädagogische Ausbildung in den Lehramtsstudiengängen vor allem für die Sekundarstufe zwei. „Es ist völliger Humbug, dass Lehrer immer noch zu 100 Prozent zu Fachlehrern ausgebildet werden“, kritisiert Schulforscher Struck. „Wir bräuchten ein grundständiges Klassenlehrerstudium und müssten das zweite Unterrichtsfach durch ein Bündel von Lerninhalten ersetzen, von der Hirnforschung über Psychologie und Bewegungskunde bis zur systematischen Elternarbeit.“ Wenn Schüler mal frontal lernen und sich selbst etwas erarbeiten können, wenn sie mal präsentieren müssen und sich mal in Sessel zum Lesen zurückziehen dürfen, wenn sie mal auf Erkundung gehen können und mal, ganz altmodisch, Gedichte auswendig lernen müssen, wie Struck es vorschlägt, dann gäbe es in Schulen künftig vielleicht etwas weniger Langeweile.

Für Sven Hilmar ist das jedoch zu spät. Die Lust auf Zahlen ist ihm bis heute vergangen.