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DIE MONOKAUZE

VON JOACHIM FRISCH

Sie sind uns vertraut: Die rougewangige Dame mit der kupferfarbenen Bienenkorbfrisur, deren Alter schwer zu schätzen ist, weil alle sichtbaren Hautpartien mit einem halben Zentimeter Schminke übertüncht sind, und der bärtige Herr mit der randlosen Brille und der russischen Pelzmütze, deren Ohrenklappen nur im Hochsommer nach oben geknöpft werden. Nennen wir ihn im folgenden Herrn Mühsam, denn er ähnelt, einschließlich der gelblich-grauen Gesichtsfarbe, dem Schriftsteller und Anarchisten Erich Mühsam, wie wir ihn von vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos kennen. Und nennen wir die Dame an dieser Stelle einfach Frau Fogel. Das klingt gefiedert und bunt und entspricht der Tatsache, dass sie irgendwie seltsam, aber sympathisch aussieht.

Frau Fogel und Herr Mühsam leben in jeder deutschen Stadt, die größer ist als Quickborn oder Ottobrunn. Jeder kennt sie, denn Frau Fogel und Herr Mühsam zeichnen sich dadurch aus, dass sie unentwegt durch die Innenstadt und die Fußgängerzone wandern und reden, zu Gott, zur Welt, zu sich selbst, aber niemals zu einem anderen Menschen. Auch wenn wir uns nie mit Frau Fogel und Herrn Mühsam unterhalten, erscheinen sie uns doch wie alte Bekannte. Ein wenig haben wir sie sogar in unser Herz geschlossen, weil sie so anders sind als wir.

Seit einiger Zeit aber vermissen wir Frau Fogel und Herrn Mühsam. Nein, sie sind nicht verschwunden, aber sie sind nicht mehr anders. Sie erheben sich nicht mehr aus der Masse all der geschäftigen Menschen, die inzwischen pausenlos vor sich hin parlierend durch unsere Fußgängerzonen streifen. Via modernster Kommunikationstechnik reden sie permanent auf Geschäfts- und Sexualpartner ein, ohne dass diese Partner oder wenigstens ein Mobiltelefon zu sehen sind. Das solipsistische Vor-sich-hin-Reden ist zur Regel geworden, nicht mehr liebenswerte, kauzige Ausnahme. Es gehört in das zeitgenössische Stadtbild wie andere zeitgenössische Geschmackssünden, wie H & M und Starbucks.

Die Kommunikationstechnik hat Frau Fogel und Herrn Mühsam ihrer Einzigartigkeit beraubt. Ihnen ist das schnuppe, parlieren sie doch wie eh und je mit Jesus, der verstorbenen Tante oder dem großen Gatsby. Die Opfer sind wir. Frau Fogel und Herr Mühsam waren die Versicherung unserer Normalität, ihre frohe Botschaft an uns lautete: Solange du nicht durch die Straßen läufst und einen endlosen Monolog an Fidel Castro oder den Erzengel Gabriel richtest, bist du mental noch einigermaßen knusprig. Diese Versicherung ist dahin.

Dass wir in der Öffentlichkeit nur mit physisch anwesenden Menschen sprechen, ist längst kein Zeichen mehr für Realitätssinn, sondern eher für den verpassten Anschluss an die kommunikationstechnische Supermoderne. Das Zwiegespräch mit physisch anwesenden Gesprächspartnern wird bald jenes gnädige Wohlwollen der Masse ernten, das früher Frau Fogel und Herrn Mühsam zuteil wurde. Diese werden dann so normal sein wie Lieschen Müller und Manfred Mustermann.

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