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Der Dichter des Nervensystems

GEORG BÜCHNER Die Kammerspiele München begegnen dem Dichter zum 200. Geburtstag mit Understatement und dem Leuchten seiner Sprache

Die Liebe zu Georg Büchner, dem vor 200 Jahren geborenen Dichter, Naturwissenschaftler, Mediziner und Revolutionär, ist derzeit überall groß. Dass er kurz nach seiner Antrittsvorlesung in Zürich mit nur 23 Jahren an Typhus starb, macht angesichts seines schmalen, aber gewaltigen Oeuvres immer wieder staunen.

Auf welches seiner Talente hätte er sich in einem längeren Leben wohl kapriziert? Wäre er zwischen Revolution und Restauration zerfleischt oder gar bürgerlich geworden? Worüber hätte sich sein zur Albernheit neigender Witz, seine zotenreich frivole, schmerzhaft poetische und messerscharf das Wesen des Menschen aufspießende Sprache noch gestülpt als über die Langeweile der Königskinder „Leonce und Lena“, den unglücklichen „Woyzeck“ und die Händel zwischen Danton und Robespierre um menschenfeindliche Tugenden und das Recht auf Blutvergießen für ein edles Ziel?

In München, wo das Theater schon Barbara Wysockas musikalisch-installative „Woyzeck/Wozzeck“-Variante im Repertoire hat, hat man zum Büchner-Geburtstag Understatement walten lassen. Am Geburtstag selbst stand in „Lenz.Leben – Laut.Malen“ nur der Kammerspiele-Protagonist Hans Kremer auf der Bühne, flankiert von der Malerin Isabelle Krötsch und der Pianistin Masaka Ohta. Kremer und Krötsch, beide leidenschaftliche Büchner-Fans, hatten kurz zuvor in bewundernswerter Eigeninitiative und ohne finanzielle Förderung mit vielen namhaften Künstlern einen mehrtägigen „DantonDenkRaum“ in der Anatomischen Anstalt der Ludwig-Maximilians-Universität eingerichtet: Eine Lecture Performance sehr offenen Zuschnitts, in der simultanes Lesen, Filmen, Zeichnen, Musizieren und die geistigen Ergüsse prominenter Wissenschaftler die Hyperkomplexität des „Danton“ unter sich begruben.

Den Worten nachlauschen

Der spartanische Weg, den man nun im Werkraum der Kammerspiele beschritt, behandelt Büchners Worte hingegen so behutsam, dass sie fast auf einem Podest stehen. Doch es fehlt die Distanz, die es zur Ehrfurcht braucht. Denn während Kremer aus dem „Lenz“ vorliest, diesem literarischen Dokument der orgiastischen Selbstauflösung des Menschen in der Natur, in der das Bewusstsein mal auf einen winzigen Punkt fokussiert und dann wieder überall zugleich ist, lauscht er ab und zu einem Wort nach und begräbt sein Gesicht in den Händen. Kremer spielt hier nicht den Empathischen, sondern versetzt sich unaufdringlich in diese „offene Wunde“ Mensch hinein. Dazu zeichnet und malt Krötsch organische Linien und Wasserfarbkleckse, aus denen auf der Bühnenrückwand diffuse Landschaften entstehen; Seelenlandschaften, in denen Gesichtszüge aufblühen.

Für den Zuschauer ist der kleine, feine (und einmalige) Abend eine Art Meditationsraum, in dem die Gedanken schweifen können: Geht es in diesem eindringlichen Psychogramm nun um Pathologie oder schrankenloses Freiheitsstreben?

Als Dichter des Nervensystems muss Büchner begriffen werden, der für seine Doktorarbeit Fischnerven sezierte und in „Dantons Tod“ diese unvergesslichen Zeilen über das Einanderkennen schrieb: „Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Der „Danton“, den Kammerspiele-Intendant Johan Simons Ende September auf die große Bühne hievte, denkt die physikalisch-psychische Gemengelage Mensch in Richtung Posthumanismus weiter. Der irritierend offene Abend bietet die wunderbarsten Akteure auf, um sie wie Sandra Hüller in einer intensiven Miniszene als Hure Marion in der mehr laut denkenden als schauspielerisch auftrumpfenden Menge zu verstecken. Und doch ist auch dieses zu einem Tableau geronnene Understatement eindrucksvoll.

Begleitet von der zuweilen allzu manipulativen Musik des mit an der langen Tafel sitzenden Orchesters (Komposition: Carl Oesterhelt) tritt das Ideendrama im Rahmen einer Revolutionsgeisterbeschwörung auf. „Wir leben heute in einer ganz neuen Ordnung, und die Verflechtung der Umstände umhüllt unsere Körper … mit einem Strahlenkranz der Freude.“

Dies sind die ersten Worte des Abends von Johan Simon. Sie kommen aus der künftigen Gegenwart des neuen, über Schmerz und Sehnen hinausgewachsenen Menschen und sind Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ entliehen. Und dann schaut man sich den Schmerz noch einmal an: den vergangenen Menschen, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder einfach nur die Früchte seiner Arbeit genießen wollte. Seine Gedankenverrenkungen unter dem Schatten der Guillotine. Den Diskurs, vor allem den Diskurs und wie er in die Körper sickert. Und die Worte des toten Dichters leuchten noch immer.

SABINE LEUCHT

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