Das erzählende Ich treibt im Ursumpf

SECHZIGERJAHRE Hier geht es nicht zur nächsten Demo, sondern in die Stammkneipe, um Frauen anzuschmachten. Und dennoch schreibt der Autor Daniel Dubbe eben doch ein kleines, feines Epochenporträt: „Jungfernstieg oder Die Schüchternheit“

Die Buchhandlungen machten gerade einen Reibach mit Schriften, die zum Umsturz aufriefen

Der Schriftsteller F. C. Delius hat vor über zehn Jahren in seinem Buch „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ die alte These Wilhelm Reichs, wonach die sexuelle Befreiung der Revolution vorangehen müsse, mit einer autobiografischen Erzählung untermauert. Ein angehender Schriftsteller erlebt hier mit der amerikanischen Jüdin Rahel seine sexuelle Initiation, und plötzlich erkennt er – wir schreiben 1966, der erste friedliche Anti-Vietnamkrieg-Sitzstreik wird von den Ordnungshütern mit Knüppeln aufgelöst –, dass es politischen Handlungsbedarf gibt. „Auf der Bundesallee tanzten ihm nur noch zwei Wörter durch den Kopf, Krawall, Rahel, Krawall, Rahel, beide Wörter betonte er auf der zweiten Silbe und passte den Rhythmus des Sprechens dem Rhythmus des Laufens an, Krawall, Rahel, Krawall, Rahel. Eine Erektion.“ Das hat die Plausibilität eines Aufklärungspornos aus dem 18. Jahrhundert. Da legten vor allem die weiblichen Akteure auch erst nach der Defloration ihre selbstverschuldete Unmündigkeit ab und wurden zu philosophischen Menschen.

Es spricht für Daniel Dubbes Erzählung „Jungfernstieg oder Die Schüchternheit“, dass er sich auf dieses Ideologem zwar bezieht, aber es nicht zum Epochenerklärungsschema aufbläst. Auch Dubbes Icherzähler ist ein introvertierter, unerfahrener, meistens unglücklicher Künstlertyp, dessen sexuelle Sozialisation in den Sechzigern episodisch abgearbeitet wird. Und sie korrespondiert zwar mit seiner Persönlichkeitsentwicklung, aber der Autor schminkt sein Alter Ego nicht gleich zum Stellvertreter seiner Generation zurecht, sondern lässt ihm seinen unbedingten Individualismus.

So spielen die begleitenden Lektüreerlebnisse, Pavese, Sartre, Chandler, Rober Walser und Schopenhauer, für ihn eine viel größere Rolle als die politischen Ereignisse. Das Politische kommt nur am Rande vor – als Stimmung. Seinem kleinkriminellen Freund und Gönner Frankie rät der Erzähler, ruhig mal ein Auge auf die Ladenkassen der Buchhandlungen zu werfen. „Sie machten gerade einen Reibach mit Schriften, die zum Umsturz aufriefen. Ich fühlte mich geschmeichelt und euphorisiert, dass gerade meiner Generation diese Aufgabe zufallen sollte. Es gab, und das immer wieder, Momente eines derartigen Hochgefühls, dass ich mich in den Arm oder in die Wange kniff, um herauszufinden, ob ich nicht vielleicht träumte.“ Aber daraus folgt nichts. Er geht eben nicht auf die nächste Demonstration, sondern lieber abends in seine Stammkneipe Campari, um Frauen aus der Entfernung anzuschmachten. Und das erstaunt schon bei diesem Autor, der aus der Avantgarde-Szene kommt und einst von Helmut Heißenbüttel protegiert wurde, der sich aber auch in zwei Interview-Bänden (mit Thorwald Proll und Gabriele Rollnik) an der Geschichte der Stadtguerilla abgearbeitet hat.

Dubbe liefert mit „Jungfernstieg“ eine komplementäre Emanzipationsgeschichte. Der erste Sex, der den Namen verdient, führt bei dem erzählenden Ich gerade nicht zu einem intellektuellen Durchbruch, sondern, im Gegenteil zu einem regressiven Rausch. Das Ich wird sich dabei nicht seiner Stellung in der Welt bewusst – es wird seiner phylogenetischen Kreatürlichkeit inne: „Ich trieb im Ursumpf, dem Beginn aller Dinge.“

Das erinnert in Gehalt und Wortwahl an psychedelische Erweckungserlebnisse etwa eines Timothy Leary – und bestätigt einmal mehr das Borges-Diktum, dem zufolge sich ein Schriftsteller gar nicht besonders um Zeitgenossenschaft bemühen müsse, die stecke ohnedies in allem, was er schreibe. Auf diese indirekte Weise ist Dubbes „Jungfernstieg“ dann eben doch ein feines, kleines Porträt der Sechzigerjahre.

FRANK SCHÄFER

Daniel Dubbe: „Jungfernstieg oder Die Schüchternheit“. Maro Verlag, Augsburg 2010. 118 Seiten, 14 Euro