Als das Geld noch etwas galt

NUMISMATIK Fänden Archäologen in tausend Jahren Euro-Münzen unter dem Schutt Europas – man müsste ihnen eine Erklärung geben. Hier kommt sie

Herkunft: Die ersten Funde von vermutlichem Metallgeld stammen aus dem Mittelmeerraum und datieren um die Zeit 2000 v. Chr. Es handelt sich dabei um Haustierminiaturen aus Bronze.

Wert: Münzen, deren Kurswert durch den Metallwert bestimmt ist, werden Kurantmünzen genannt. Dies traf bis 1915 auf die meisten Edelmetallmünzen zu, deren Edelmetallanteil größer als 50 Prozent war. Als Scheidemünzen bezeichnet man Münzen, deren Prägewert nicht dem Metallwert entspricht. Der Materialwert aller heutigen Umlaufmünzen liegt immer unter dem Nominalwert. Sie sind somit Scheidemünzen.

Geruch: Die Haut nimmt nach Kontakt mit kupfer- oder eisenhaltigen Münzen einen eigenartigen Geruch an, den Menschen üblicherweise mit „metallisch“ assoziieren. Dessen Entstehung konnte erst im Jahr 2006 geklärt werden. Die Metalle bewirken eine rasch ablaufende chemische Reduktion der lipidbasierten Komponenten auf der Oberfläche der Haut, wobei in Folge riechende Ketone und Aldehyde entstehen.

VON MARTIN REICHERT

Die Münze war schon immer das, was von Europa übrig blieb. Auch wenn seine Staatengebilde, Reiche und Länder längst in Schutt und Asche lagen, fanden Archäologen Jahrhunderte und Jahrtausende später Münzen in ebenjenem Schutt, die Aufschluss über die Zustände jener Zeiten versprachen, in denen sie gültig waren.

Numismatiker, also in der Münzkunde versierte Wissenschaftler und Sammler, fänden nun in 1.000 Jahren sowohl griechische Fünf-Cent-Münzen mit einem eingeprägten Öl-Supertanker als auch Ein-Cent-Stücke mit einer „Attischen Triere“, einem Kriegsschiff der Antike – beide versehen mit der Jahreszahl 2010. Die Numismatiker wären womöglich ratlos. Ein Stahlschiff vom Ende des Ölzeitalters und zeitgleich ein hölzernes, mit Rudern und Segel betriebenes Schiff aus der Zeit vor Christi Geburt?

Diese Euro-Münzen wären Zeugen einer Zeit, in der das Projekt Europa aufgrund von finanziellen Krisen in eine schwere Krise geraten war, würden womöglich sogar als letzte Zeugen vom Ende dieses Projekts künden.

Für die Numismatiker kommender Jahrtausende wäre wichtig zu wissen, dass diese Münzen aus einer Zeit stammen, in der das Geld nicht mehr wirklich war, sondern nur noch bedeutete und galt. Die Münze war zu dieser Zeit, in der man längst mit Papiergeld, Plastikgeld und elektronischem Geld Waren tauschte und Werte speicherte, nur noch eine Erinnerung an die ursprüngliche Bedeutung des Geldes. Also an noch viel frühere Zeiten, in denen eine Münze, etwa der Goldtaler, einen tatsächlichen Gegenwert in Metall bildete und nicht nur eine Idee war.

Rund um das Jahr 2010 sprach man viel von „Wertigkeit“, weil den Menschen das Gefühl für tatsächliche Werte längst abhanden gekommen war. So hätte es sich am ehesten gelohnt, das nominell wenig werte 10-Cent-Stück zu horten, weil es mit 16,16 % das zu diesem Zeitpunkt beste Verhältnis „Metallwert zu Nennwert“ hatte. Der aber auch aufgerundet nur 2 Cent betrug.

Womöglich fände man nun in 1.000 Jahren die legendäre Münzsammlung Helmut Kohls in einem Salzstollen. Dieser deutsche Bundeskanzler war federführend bei der Abschaffung einer Münze namens „Deutsche Mark“ und der Einführung des „Euro“. Zu Kohls Lebzeiten gab es in Deutschland die letzte Münze, deren Metallwert den Nennwert überstieg, das auch als „Heiermann“ bekannte 5-DM-Stück. Es bestand ursprünglich aus einer Legierung mit 62,5 Prozent Silber und 37,5 Prozent Kupfer. Als der Metallwert den Nennwert der Münze überstieg, wurde sie 1975 aus dem Umlauf gezogen. Aufgrund des „Gresham’schen Gesetzes“, nachdem „schlechtes Geld das gute Geld aus dem Umlauf verdrängt“. Die Heiermänner wären gehortet worden.

In der Ära der DM wurde in Deutschland sehr, sehr viel Geld verdient und gehortet – auch in Münzform. Damals waren Dispokredite noch nicht allgegenwärtig und man unterschied noch zwischen Plus und Minus vor dem Konto. Fast jeder Bürger hatte ein Sparschwein, in das er Münzen füllte. Junge Mädchen horteten Pfennigstücke in riesigen Flaschen, um für ihre Brautschuhe zu sparen.

Man brauchte die Münze nur noch als Pfandstück, um einen Einkaufswagen entleihen zu können. Aber die Menschen mochten sie weiterhin, weil sie wenigstens etwas in der Hand hielten

Schon im Jahr 1998 wurde dieser Brauch per Gesetz ad absurdum geführt, weil von nun an der Einzelhandel nicht mehr verpflichtet war, mehr als fünfzig Münzen anzunehmen. Bald schon, im Jahr 2002, wurde die DM abgeschafft und die Deutschen verloren ihren Pfennig, der ihnen als Glücksbringer galt.

Die Münzen gerieten am Anfang des dritten Jahrtausends so weit ins Hintertreffen, dass sie sogar im Gegensatz zu 50-Euro-Scheinen kaum noch gefälscht wurden. Man brauchte sie nur noch als Pfandstück, um einen Einkaufswagen entleihen zu können. Aber die Menschen mochten die Münzen weiterhin, weil sie ihnen das Gefühl vermittelten, wenigstens etwas in der Hand zu halten – obwohl sie wussten, dass die für ihr Geld verantwortliche Europäische Zentralbank nicht verpflichtet war, Banknoten oder Münzen in Gold und Silber umzuwandeln. Stattdessen nutzte diese Zentralbank sogar an andere Kreditinstitute vergebene Kredite als Deckung.

Es gab in dieser Zeit durchaus Misstrauen gegenüber dem Geld an sich, das als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ bezeichnet wurde. Eine durch Aufkleber in das Volk getragene Weisheit war bei vielen längst in das Bewusstsein gedrungen: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“

Doch eben weil das Geld in Wirklichkeit gar nichts wert war, musste man umso stärker an das Geld glauben, weil man sonst gar nichts mehr zu essen gehabt hätte. Die Menschen im Jahr 2010 lebten nun also von der Hoffnung.