Das gute Leben war früher

„Das kleine Holland muss sich an die EU-Spielregeln halten. Die Franzosen machen, was sie wollen“

AUS URK UND DROCOURT DANIELA WEINGÄRTNER

Am 22. Mai 2005 gab es in Drocourt Freibier und Sauerkraut für alle. Staatspräsident Jacques Chirac wollte eine Woche später seine Franzosen an den Urnen sehen – sie sollten der Europäischen Verfassung zustimmen. Bürgermeister Bernard Czerwinsky hatte mit seinen Freunden von der Kommunistischen Partei wochenlang hart gearbeitet, um das zu verhindern. Sie waren nach Brüssel gefahren, um sich im Europaparlament in einem Seminar der linken Fraktion politische Munition zu holen. Sieben Flugblätter wurden gedruckt, in denen die unsoziale Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die Bolkestein-Direktive, das undemokratische Regiment der Brüsseler Bürokratie am Pranger standen. Nun hatten sich alle ein Bierchen verdient.

Im niederländischen Urk stand zur gleichen Zeit Dominee van der Wolf im schmucklosen Andachtsraum seiner Kirche vor vollen Bänken, wie jeden Sonntag. Er legte das Wort Gottes aus, zum anstehenden EU-Referendum äußerte er sich nicht. „Das ist nicht meine Aufgabe. Die Ablehnung kam von den Leuten selbst. Es hat natürlich mit dem Glauben an Gott und die Bibel zu tun. Ein wichtiger Grund war aber auch, dass hier durch Regeln aus Brüssel die Fischerei kaputt gemacht wird“, erinnert er sich ein Jahr später.

Der 17.000-Seelen-Ort erhebt sich wie ein kleiner Hügel an der Ijsselmeerküste. Hier ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint. Bis 1949 war Urk nämlich eine Insel. Stück für Stück wurde dem Meer der Ackerboden abgetrotzt und ließ das Fischerdorf mit dem Festland zusammenwachsen. Bis heute sprechen sie „auf Urk“ ihren eigenen Dialekt, viele Frauen tragen züchtige bodenlange Röcke.

90 Prozent der Einwohner gehören einer der 14 protestantischen Glaubensrichtungen an. Es gibt 22 Kirchen und weitere sind im Bau, denn die Hälfte der Einwohner ist jünger als 21 Jahre. „Wenn ich mit meiner großen Familie in andere Städte komme, schauen uns die Leute komisch an. Hier ist das normal. Das ist sehr angenehm“, sagt der sechsfache Vater van der Wolf. Doch seine Rolle als Ratgeber, den sogar der Bürgermeister um seine Meinung fragt, macht ihn auch einsam. „Du willst ja nicht über der Gemeinde stehen, aber es ist nun mal so“, sagt der Pastor.

In Drocourt stehen zwei Kirchen. Der katholische Pfarrer hält aber selten Gottesdienst hier, weil er vier weitere Dörfer betreuen muss und ein Drittel seiner Zeit in Paris verbringt, wo er einen Lehrauftrag hat. Seit 1935 regieren die Kommunisten. Seit dem Zerfall der UdSSR geht ihr Einfluss allerdings zurück. Als Czerwinsky 1995 Bürgermeister wurde, hatten noch 70 Prozent rot gewählt, bei der letzten Kommunalwahl stellte er eine parteiübergreifende Liste auf. Doch wenn es um die EU-Verfassung geht, sind abgesehen von ein paar Sozialisten noch immer alle einer Meinung.

„Ich bin für Europa“, sagt der 52jährige Salah Kaci, ein ehemaliger Stahlarbeiter. „Zum Beispiel sollten die Steuern überall gleich hoch sein. Es kann ja wohl nicht sein, dass die Leute drüben in Belgien ihre Fluppen billiger einkaufen und sich von der französischen Kasse die Lungenkrebsbehandlung bezahlen lassen.“ Czerwinsky nickt. „Ich bin doch selbst polnischen Ursprungs. Kaci stammt aus Algerien. Wie sollten wir da gegen Europa sein!“ Doch man sollte seiner Meinung nach im Kleinen anfangen. Hier, im Kohlebecken von Pas-de-Calais hätten sie zum Beispiel dieselben Probleme wie jenseits der Grenze in der Wallonie. Er fühle sich einem Belgier aus Hainault näher als einem Franzosen aus Marseille.

Am 1. Januar 2002 machte die letzte Kokerei in der Region dicht, 400 Jobs waren weg. Schon in den 80ern hatten 100.000 ihre Arbeit in der Kohlegrube oder im Stahlwerk verloren. Heute ist jeder Fünfte hier arbeitslos. Das gute Leben war früher. Die Minen hatten eigene Krankenstationen, eigene Apotheken, alle waren sozial abgesichert. Für Wohnung und Heizung sorgte der Betrieb, man ging zu Fuß zur Arbeit und abends in den Schrebergarten. „Die Menschen sind nicht so mobil, wie es heute verlangt wird“, seufzt Kaci. An die Schattenseiten von damals erinnert eine Fotoausstellung im Gemeindehaus. Bei einer Explosion in der Mine von Courrières starben vor 100 Jahren mehr als 1.000 Menschen, es war einer der schwersten Industrieunfälle Europas.

Damals zog das boomende Geschäft mit Kohle und Stahl Arbeitsuchende aus ganz Europa an. Heute sehen die Menschen hier die Erweiterung der EU nach Osteuropa als Bedrohung für ihre Existenz. „Sie finden hier Ukrainer, die für 30 Euro im Monat Laster fahren“, schimpft Kaci. „Kürzlich ist ein Spediteur deshalb verurteilt worden. Der Mindestlohn beträgt schließlich 1.500 Euro.“ Czerwinsky ergänzt: „Wenn es überall den gleichen Mindestlohn gäbe, könnten wir auch in Polen arbeiten. Dann wäre die Sache in Ordnung.“

Nach Urk sind die ukrainischen Lasterfahrer bislang nicht gekommen, obwohl es hier viel mehr Arbeit gibt als in Drocourt. Dominee van der Wolf erklärt die Sache mit sanfter, freundlicher Stimme. „Der Urker will gern Dinge teilen, aber nicht an seinem Wohnort.“ Seit 30 Jahren fahren sie jeden Sommer mit vollgepackten Bussen los, da sind Kleiderspenden drin und Nahrungsmittel – aber vor allem kistenweise Bibeln. „Wir bringen sehr viele Bibeln in die Welt, vor allem zu christlichen Gemeinden in der Ukraine.“ Für das Projekt „Fischer für Fischer“ in Äthiopien wurden dieses Jahr 400.000 Euro gesammelt.

Schiffe sind das Leitmotiv von Urk. Sie finden sich als Ornament im schmiedeeisernen Gartenzaun, stehen in Vorgärtchen zwischen Zwergen, Bonsais und steinernen Elefanten, eines hängt bei Pastor van der Wolf von der Decke des weiß gekalkten Gebetsraums. An manchen Briefkästen klebt nicht der Name des Bewohners, sondern die Kennnummer seines Kutters: „UK 92“ steht an einem grün gestrichenen Gartenzaun.

„Wenn es überall den gleichen Mindestlohn gäbe, könnten wir Franzosen auch in Polen arbeiten“

Ein Monument am alten Hafen erinnert daran, dass die Nostalgie auch eine dunkle Seite hat. Hier ist der wartenden Fischersfrau ein Denkmal gesetzt, die sich rücklings gegen den Sturm stemmt. Er drückt ihr die langen Röcke gegen die Beine und bläst ihr die Haare ins Gesicht. Über die Schulter schaut sie aufs Wasser und sucht das Boot, das ihren Mann und die Söhne heimbringen soll. Fast 300 Namen stehen auf der Hafenmauer, häufig sind unter dem gleichen Todesdatum mehrere Mitglieder einer Familie verzeichnet. 1717 beginnt die Liste mit Hendrik Willemsz, 1999 endet sie mit Kobus Post.

Mit seinen reedgedeckten Katen, dem kleinen Leuchtturm und dem Heimatmuseum könnte Urk ein Touristenziel für Ijsselmeerliebhaber sein. Doch außer zwei einfachen Pensionen würden sie keine Bleibe finden. Fremde sind „auf Urk“ nicht sonderlich gern gesehen. Natürlich arbeiten in den riesigen Fischverarbeitungsfabriken an der Ausfallstraße ein paar Ausländer. Es gibt auch einige muslimische Asylbewerber. „Aber die üben ihre Religion hier bestimmt nicht aus. Das sollte Urk auch nicht zulassen“, sagt sanft lächelnd der Pfarrer. Wenn es um Geschäfte geht, ist der Urker hingegen ein weltoffener Unternehmer. Da sie hier die Zeichen der Zeit früher als anderswo erkannten, ist den ehemaligen Insulanern ein Kabinettstück gelungen: Sie haben die größte und modernste Fischauktionsanlage Europas bei sich zu Hause gebaut. Gerade ist eine Delegation aus Oman zu Besuch, die sich erklären lässt, wie der „Visafslag“ per Internet funktioniert.

Die Versteigerungshalle erinnert an das Nasa-Kontrollzentrum. An der Wand flimmern Fischsorten, Mengen und Einstiegsgebote, auf zwei riesigen Stoppuhren tickt die Zeit für eine Ladung Scholle in Urk und ein paar Kisten Kabeljau in Scheveningen. An den langen Tischen sitzen wettergegerbte Männer mit groben Gummistiefeln, die Kappen ins Gesicht gezogen und starren konzentriert auf ihre Laptops. Manche kaufen heute für 1.000 Euro, andere für eine halbe Million.

Im Nachbarraum surrt die Klimaanlage des Rechenzentrums. Modernste Computer sorgen dafür, dass der Hummer aus Hull, Ostengland, ebenso zum bestmöglichen Preis seinen Käufer findet wie der Plattfisch aus Urk. 80 Prozent der Nordseescholle wird von der Urker Flotte gefangen. Früher bestand sie aus 300 Schiffen. Die Fangbeschränkungen der EU-Kommission führten aber in den letzten Jahren dazu, dass sie halbiert werden musste. „Wir haben das Gefühl, dass Europa uns nicht bringt, was wir gern hätten – zum Beispiel höhere Quoten“, schimpft Fischer Piet de Vries. Sein Sohn ergänzt: „Das kleine Holland muss sich an die Spielregeln aus Brüssel halten. Die Franzosen und Spanier machen, was sie wollen.“ Noch immer liegt die Arbeitslosigkeit hier unter 3,5 Prozent. 70 Prozent der Urker leben direkt oder indirekt von der Fischerei. 80 Prozent des gesamten holländischen Fischs wird in den großen Fischfabriken am Ortsrand verarbeitet, die alle in Familienbesitz sind. Nach der Schulzeit stehen die jungen Mädchen aus dem Ort hier am Fließband und filetieren, was die großen Kühllaster von der Nordsee angeliefert haben. „Viel verdienen, jung sich trauen, viele Kinder kriegen“ beschreibt ein Fischer das Lebensmotto der nächsten Generation. Doch die Profite sind drastisch gesunken, seit das Meer so wenig hergibt und strenge Brüsseler Gesetze sogar Schleppnetze verbieten. Die Bibel dagegen begnügt sich mit Fangverbot am Tag des Herrn.