MICHAEL STRECK über TRANSIT
: Madonna von Traunstein

Bei einem meiner seltenen Besuche in Bayern ereignete sich etwas sehr Unerwartetes: ein Wunder

Mein derzeitiges Leben ist vom Dauerreisen geprägt. Nur bedingt sesshaft, den Koffer immer gepackt, ein Ticket immer gebucht und die Woche damit verbringend, ihr Ende zu organisieren. Manchmal in Berlin, wo ich wohne, manchmal in Holland, wo meine Frau wohnt oder woanders in Europa, weil es sich aus irgendwelchen Gründen anbietet, sich dort zu treffen.

Diesmal war ich in Bad Reichenhall, einem Ort, wo man nicht gerade Wunder erwartet. Doch genau dort passierte es. Ich reiste also durch Bayern, machte zunächst die Erkenntnis, dass a) strukturschwache Regionen nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im prosperierenden Süden liegen, b) Adolf Nazi im Grunde ein fauler Sack war und sein Hofstaat schon in den 1930er-Jahren über dessen uninspirierende, langweilige, ermüdende Gesellschaft hinter seinem Rücken klagte (ich empfehle einen Besuch des Obersalzbergs mit gelungener Dokumentation über Hitlers Feriendomizil) und c) die Watzmanntherme nicht nur einen Ausblick auf den schönsten Berg Deutschlands und die kontinentaleuropäische Freizeit- und Rentnergesellschaft bietet, sondern auch alle jene Spötter verstummen lässt, die glauben, Amerika sei die Heimat übergewichtiger und formloser Menschen.

Dann geschah das Wunder. Dazu muss ich erwähnen, dass ich die vergangenen fünf Wochen von mysteriösen Schmerzen in meinem rechten Bein geplagt wurde. Starken Schmerzen. Diese beendete nicht nur abrupt meine geliebten Sportaktivitäten. Auch sonst erlebte ich keine wirklich entspannten Stunden mehr und kam mir vor wie mein eigener Opa. Ich wünschte mir, ich könnte in ein Geschäft gehen und ein Ersatzbein kaufen.

Besonders ärgerlich war, dass Ruhe, nicht Belastung, den Schmerz verstärkte. Weder konnte ich es eine halbe Stunde in einem Flugzeugsitz aushalten noch im Bus oder Auto. Und am liebsten hätte ich immer ein kleines Eisfach um mein Bein geschnallt. Es mochte Kühlung sehr, sie linderte. Die Ärzte waren ratlos. Schickten mich munter zu anderen Spezialisten, nur um ebenso hilflos zu sein.

An jenem Samstagmorgen hatte ich mich dann nach Bad Reichenhall gequält, um meine Frau bei Freunden zu treffen. Ich lag bei frühsommerlicher Wärme und Schneegipfelpanorama im Garten auf einer Pritsche – mein Bein verweigerte sich wieder einmal. Derart invalidisiert, hatte ich mir einen Stapel Zeitungen vorgenommen. Auch das Reichenhaller Tagblatt war dabei. In der Schlagzeile auf der Titelseite ging es um einen Nachbarort namens Traunstein, der offenbar Kopf stand: Denn eine Madonnenfigur hatte hier seit Karfreitag mehrmals aus Augen und Gliedmaßen geblutet. Eifrige gottlose Reporter der Lokalpresse gaben sich nun alle Mühe, das Geheimnis zu lüften und die ehrfürchtige Besitzerin des Betrugs zu überführen. Dies erschien mir sehr unklug angesichts mangelnder wirtschaftlicher Impulse in dieser Region, die durchaus einen kleinen Wallfahrtsort gebrauchen könnte.

Und während ich so las, begannen die Kinder des Hauses im Garten auf einem Trampolin herumzuspringen. Nach einer Weile wollte ich dann doch nicht als völlig verrostet abgestempelt werden. Ich kletterte mühsam auf das Gerät und begann zu hüpfen. Anfangs völlig ungeschickt wie ein Fohlen, das laufen lernt und immer wieder einknickt. Dann zunehmend sicherer. Plötzlich merkte ich, dass mein Schmerz verschwunden war. Ich sprang weiter. Minuten. Viertelstunden. Halbe Nachmittage. Die Nachbarn schauten mitleidig über die Hecke. Bei Tagesende funktionierte mein Bein wieder normal. Ich kletterte über den Zaun des nahe gelegenen Bundeswehrsportplatzes, drehte verzückt ein paar Runden und fühlte mich wie Lazarus.

Glücklich über die wundersame Heilung begab ich mich ins beste Wirtshaus im Ort, bestellte aus irgendeinem Impuls heraus Weizenbier, das mir sonst nie schmeckt, und fragte mich sodann, wie man hier überhaupt „Bier aus fremden Regionen“ (Menüpunkt laut Speisekarte) trinken könnte. Anschließend kaufte ich mir eine Madonna.

Fragen zur Madonna? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander SCHICKSAL