Der Energiehunger des Tigers

Der Wirtschaftsboom in China und Indien setzt den Westen umweltpolitisch unter Druck. Er zwingt dazu, den ökologischen Kurswechsel ernsthaft und weltweit voranzutreiben

Demokratie ist die Voraussetzung für ökologischen Wandel: Hier ist Indien den Chinesen voraus

Der Aufstieg Chinas – und mit einigem Abstand dazu auch Indiens – zu Wirtschaftsmächten ersten Ranges beeindruckt, fasziniert und erschreckt die Ökonomen, Geostrategen und nicht zuletzt auch die Ökologen im Westen. Mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 9,4 % pro Jahr über einen Zeitraum von 26 Jahren hinweg ist der Boom der chinesischen Wirtschaft ohne Beispiel in der Geschichte. „Reichwerden ist glorreich“, hieß die Parole, die Deng Xiaoping zu Beginn dieses atemberaubenden Aufstiegs ausgab. Heute weiß die chinesische Führung, dass sie einen Tiger losgelassen hat, den sie nun reiten muss. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht und die sozialen Spannungen sind immens – genauso wie die ökologischen Belastungen, die der Boom hervorgebracht hat.

Wer sich etwas näher mit den ökologischen Herausforderungen in China beschäftigt, wird einem Paradoxon begegnen. Da sind auf der einen Seite die überdeutlichen Krisensignale: Luft- und Wasserverschmutzung, Bodenerosion und Ressourcenerschöpfung haben ein erschreckendes Ausmaß gewonnen. Ökologische Katastrophen wie der Chemieunfall am Songhua-Fluss bei Harbin und die chronische Grundwasserverseuchung im „Krebsdorf“ Huangmengying, die international bekannt wurde, sind wohl nur die Spitze des Eisbergs.

Hinzu kommt ein drastisch steigender Ressourcenverbrauch, der schon lange nicht mehr aus dem eigenen Land befriedigt werden kann. Die nach den großen Überschwemmungen des Jahres 1996 erlassenen Gesetze gegen die Abholzung der chinesischen Wälder haben dazu geführt, dass nun Südostasien und das Amazonasbecken auch für den chinesischen Holzbedarf geplündert werden. Chinesische Konzerne sichern sich mit staatlicher Protektion Öl- und Gasvorkommen in Afrika und Lateinamerika, ohne sich mit ökologischen und menschenrechtlichen Bedenken zu tragen.

Auf der anderen Seite begegnet man in der chinesischen Führung einem ökologischen Problembewusstsein, das man sich von manchem westlichen Regierungschef wünschen würde. Die chinesische Umweltgesetzgebung kann sich durchaus sehen lassen. Grenzwerte und Standards sind sogar oft stringenter als im Westen. Und die in westlichen Ohren etwas seltsam anmutende Rhetorik vom „wissenschaftlichen Konzept von Entwicklung“ und der „harmonischen Gesellschaft“, die mit dem 11. Fünfjahresplan Einzug gehalten hat, bedeutet eigentlich nichts anderes als Nachhaltigkeit auf Konfuzianisch: Sehr viel mehr Gewicht als bisher wird hier nun auf den Abbau der enormen sozialen Spannungen und den Schutz der Umwelt gelegt. Das ist nicht nur hohle Propaganda, sondern ein neues Leitbild und ein weiter Weg von der simplen Parole Deng Xiaopings.

Doch scheint das auf höchster Ebene der Staatsführung vorhandene Problembewusstsein sich nicht in ebenso entschlossene Aktionen in den Provinzen, Städten und Dörfern zu übersetzen. Die Gesetzgebung greift nicht oder allenfalls sehr langsam. Eine Marktwirtschaft lässt sich nicht mehr mit den traditionellen Mitteln der Kommandowirtschaft steuern. Der Aufbau einer leistungsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit, die Kontrolle der staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure durch eine lebendige öffentliche Meinung sind die Herausforderungen, vor denen China steht.

In dieser Hinsicht ist Indien dem nordöstlichen Nachbarn ein großes Stück voraus. Sunita Narain, Direktorin des indischen Centre for Science and Environment, bringt es auf den Punkt: Ein hohes Maß an Demokratie ist die Voraussetzung für einen ökologischen Wandel. Denn die ökologische Krise gefährdet unmittelbar die Lebensgrundlagen der Armen. Umweltschutz ist in Indien wie China kein Luxus, sondern eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft.

Zum Zweiten werden die Eliten Chinas wie Indiens lernen müssen, dass mit ihrem größeren wirtschaftlichen und politischen Gewicht auch eine gewachsene Verantwortung für die Geschehnisse jenseits ihrer Grenzen einhergeht. Das betrifft auch die Beziehungen zu den schwächeren Staaten des Südens, die nun als Rohstofflieferanten eine ähnlich ungleiche Beziehung zu den aufsteigenden Wirtschaftsmächten aufbauen, wie sie traditionell zu den westlichen Industriestaaten besteht. Der ungleiche ökologische Tausch zwischen China und Lateinamerika wird nicht dadurch besser, dass er zwischen Europa und Lateinamerika schon seit Jahrzehnten etabliert wurde. Und ein Unterlaufen ökologischer und menschenrechtlicher Standards bringt nur kurzfristige Vorteile. Mittel- und langfristig untergräbt es die Ressourcenbasis, auf der die Volkswirtschaften beruhen.

Und wir? In ökologischer Hinsicht schaut die westliche Welt auf Asien wie in einen Spiegel, der das eigene Bild um ein Vielfaches vergrößert. Wir sehen Asiens Hunger auf Ressourcen und erkennen im Erschrecken unseren eigenen, pro Kopf um ein Vielfaches höheren Verbrauch. Mit dem spitzen Finger auf Asien zeigen hilft daher nicht. Es fällt unmittelbar auf uns zurück.

Produktiv wird das Erschrecken über Asien dann, wenn wir – gemeinsam mit Asien – sehr viel entschlossener als bisher nach den bekannten Auswegen aus der Wachstumsfalle suchen. Das weltweit beispiellos ambitionierte Ausbauprogramm Chinas für erneuerbare Energien bietet hierfür hervorragende Ansatzpunkte. Ergänzt durch ein massives Effizienzprogramm, böte eine Energiewende in China Chancen für eine sechsfache Dividende – in China, aber auch weit über China hinaus:

1) Saubere Luft für Chinas Städte, die weltweit zu den am stärksten verschmutzten zählen.

2) Ein stabileres Klima weltweit, denn wir haben nur noch 15 Jahre Zeit, um den ansteigenden Emissionstrend zu brechen.

3) Entspannung auf den Ölmärkten, wovon gerade die hoch verschuldeten Ölimport-Länder profitieren werden.

4) Neue industrielle Standards für Energieeffizienz von Fahrzeugen und Geräten, die ausgehend von China sich weltweit durchsetzen werden.

5) Eine Kostensenkung bei erneuerbaren Energien durch Massenproduktion, breite Markteinführung und Weiterentwicklung mit asiatischem Know-how.

Chinas Führung sind die Ökoprobleme durchaus bewusst. Doch die Umweltgesetze greifen nicht

6) Chancen für Ingenieurs-Know-how made in Germany. Die deutsche Industrie hat hier viel zu bieten, doch muss sie die Chancen einer Zusammenarbeit mit dynamischen asiatischen Partnern ergreifen.

Fatal wäre es, wenn wir die Umweltprobleme und Umweltsünden in Asien als billige Ausrede nutzten, um hierzulande ökologische Ambitionen auf dem Altar eines ökonomischen Wettlaufs mit Asien zu opfern.

Bei aller notwendigen Kritik: Es gibt nur eine gemeinsame Zukunft. „Weiter so in die falsche Richtung, nur schneller“, ist keine Antwort auf die asiatische Herausforderung. Der asiatische Boom setzt den ökologischen Kurswechsel zentral auf die Agenda – in Deutschland, in China und Indien, weltweit.

JÖRG HAAS