Anleitungen für die hohe Kunst des Treibenlassens

ON THE ROAD Jemand, der im Schatten eines Baums liegt, liest, schreibt: Der Autor Daniel Dubbe reist um die Welt – die Literatur als transportablen Zufluchtsort stets mit im Gepäck: „Zwischenlandung“ heißt der dabei entstandene Band

Reisen ohne Bücher – undenkbar: ob Joseph Conrad am thailändischen Strand oder die Werke Emmanouil Roidis’ in Griechenland

Reisen der Kindheit sind die aufregendsten, mögen sie aus heutiger Perspektive noch so bescheiden und unspektakulär wirken: die Busfahrt von Hamburg nach Schleswig etwa, zum großelterlichen Hof – für Daniel Dubbe nicht weniger als eine Expedition „an den Rand der bewohnten Welt“. Im Unbewussten verkapselt, formieren sich jene frühen Erinnerungsfetzen nach der Lektüre von „On the Road“ zum Lebensgefühl: der Drang, unbedingt loszumüssen, wegzufahren, abzureisen, ganz wie dieser verrückte Neal Cassady, ohne dessen Inspiration das Testament der Beat Generation nie entstanden wäre. Nur konsequent, dass die Wanderjahre des Autors Daniel Dubbe Ende der siebziger Jahre mit der Durchquerung des amerikanischen Kontinents beginnen.

In der New Yorker Wohnung des Malers Dizi – der auch in Bernd Cailloux’ Roman mémoire „Gutgeschriebene Verluste“ auftritt – herrscht ungehemmter Sprachfluss. Trotz der Regel: upper, niemals downer endet er in einem perfekten Blackout. „Jede Stadt schenkt dem Fremden ein Mädchen“, hatte ein befreundeter Schriftsteller prophezeit; der Reisende muss jedoch feststellen, dass New York in diesem Punkt eine Ausnahme darstellt – alle Berührungen bleiben flüchtig. Der Geist des „modernen“ Amerikas begegnet ihm weniger auf den Straßen als in den Schriften Andy Warhols, ein revolutionärer Geist, der zwischen Kunst und business art keinen Unterschied macht. Eine Denkweise, die, so Dubbe, eins zu eins auf den Literaturbetrieb übertragbar ist: „Wenn ein Autor in einem kleinen Verlag gut verkauft, so naht sofort eine plumpe, dicke Verlagsheuschrecke, um sein Werk in business art zu verwandeln.“

Die abendliche Lektüre im Motel erinnert eindrücklich an Wim Wenders’ Roadmovie „Alice in den Städten“: unvergessen Philip Winters (Rüdiger Vogler) verächtlich-resignierter Blick auf die in solchen Unterkünften ausliegende Bibel, die nach einem missglückten Recherche-Trip keine Fragen beantwortet, vielmehr neue aufwirft. Will ihn einmal kein Fahrzeug mitnehmen (Dubbe reist per Autostopp), spaziert er am Highway entlang, sinnierend, ob die in Deutschland kultivierte „Verkrampfung“ sich jemals lockern wird oder was eine Amerika-Reise in jungen Jahren bei Hitler hätte bewirken können. Der gebürtige Hamburger steht seiner Heimat emotionslos gegenüber, zwar sei er Deutscher der Herkunft nach, von Stolz oder gar Überzeugung hingegen keine Spur. Dennoch gibt es Menschen, die ihn an diesem Ort haben bleiben lassen: Redakteure, die in den Ferien lieber nach Norderney fahren und Stellvertreter auf Weltreise schicken – Diktaturen und Extremtourismus aussparend. So entstehen Features für den Rundfunk, denen ein gewisser Leichtsinn anzumerken ist.

Beispiel gefällig? Aus Angst, beim Überqueren einer Eimsbütteler Straße depressiv zu werden, flüchtet Dubbe nach Israel, wo er zunächst einen Gedichtband Jehuda Amichais, später flanierende Passanten intensiv studiert: „Folgende Leute gehen vorbei – zwei Männer in Zivil, älteres Paar mit Babykarre, Soldat mit Baskenmütze und MP, ein Betrunkener mit einem Schuh in der Hand, keine typischen deutschen Urlauber, keine Dirndl, keine Punks.“ Ein Dérive-Experiment, das, in weiteren Episoden praktiziert, den Leser so nah wie möglich in der Handlung, welche in natürlichen Bewegungen vom Zentrum zur Peripherie und zurück verläuft, verortet. Das Schicksal des Schriftstellers, allein sein zu müssen, um aus Wahrnehmung Literatur werden zu lassen, wird auf Reisen, so scheint’s, ausgenutzt: Während der Autor Experten zur politischen und sozialen Lage Costa Ricas befragt, lässt sich dessen Begleitung von mittelamerikanischen Liebeskünsten überzeugen. Neben dem Leitsatz „Was zählt, ist Ewigkeit und Dauer“ benötigt der Reisende bisweilen das Zwinkern des Fatums, das, sofern es ausbleibt, jederzeit zur Umkehr führen kann: So endet ein Kamerun-Aufenthalt im Hamburger Hafenkrankenhaus; Diagnose: Malaria tropica.

Reisen ohne Bücher – undenkbar: ob Joseph Conrad in Verbindung mit buddhistischen Thesen am thailändischen Strand oder die Werke Emmanouil Roidis’ in Griechenland. Für Dubbe, der nach zahlreichen Romanen und viel beachteten Beiträgen zur Geschichte der RAF seit 2009 seine Autobiografie in Einzelbänden veröffentlicht, ist die Literatur ein transportabler Zufluchtsort – immer dann, wenn die Menschen den Eindruck erwecken, dass sie nur ein müder Ersatz dessen sind, was sie hätten sein können. Ohnehin ist der ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Boa Vista niemand, der sich hemmungslos in die Fluten stürzt, lieber begibt er sich in den Schatten eines Baums, liest, schreibt. Zwischenlandung.

„Vom Reisen“, Teil drei der geplanten Tetralogie, hat eine unmissverständliche Botschaft: Scheiß auf die moderne Welt! Es ist eine Anleitung zum Rumtreiben, ohne dabei etwas Spezielles suchen oder finden zu wollen – diese Einstellung heißt Freiheit. Der Epilog schließt mit der Erkenntnis des Verfassers, dass die schwere Arbeit am leichten Stil niemals vorbei ist. Die Arbeit hat sich gelohnt: Die Prosa von Daniel Dubbe macht vollkommen glücklich.MARTIN WILLEMS

Daniel Dubbe: „Zwischenlandung. Vom Reisen“. Maro Verlag, Augsburg 2013, 140 Seiten, 14 Euro