„Ein mittelalterliches Stück Unfug“

FREIHEIT Premier Cameron beharrt auf Pressekodex, der Berichte wie von Edward Snowden verhindert

DUBLIN taz | Der neue britische Pressekodex ist Makulatur, bevor er in Kraft tritt. Keiner der großen Verlage wird ihn unterzeichnen, selbst wenn er am Mittwoch in Kraft tritt. Die konservativen Tories, Liberale Demokraten und die Labour Party hatten sich im März auf einen unabhängigen Presserat geeinigt, der die Einhaltung des Pressekodexes überwachen soll. Dem Rat sollen Verleger, Journalisten und Laien angehören, und er soll das bisherige System der Selbstregulierung der Presse ersetzen. Der Presserat kann bei Verstößen Strafen von bis zu 1 Million Pfund verhängen.

Damit folgt die Regierung des Konservativen David Cameron den Empfehlungen der Untersuchungskommission unter Leitung von Lordrichter Brian Leveson, die nach dem Abhörskandal 2011 eingesetzt worden war. Damals war herausgekommen, dass die Boulevardzeitung News of the World 4.000 Mobiltelefone von Prominenten und Mitgliedern der Königsfamilie sowie Mailboxen von Mordopfern und in Afghanistan getöteten Soldaten angezapft hatte. Der Medienzar und Besitzer der Zeitung, Rupert Murdoch, machte das Blatt daraufhin dicht. Aber auch andere Blätter hatten fragwürdige Recherchemethoden bis hin zur Bestechung von Polizisten und anderen Beamten angewandt.

Die Verleger monieren, dass „irrationale Minister“ den Konsultationsprozess nicht eingehalten und die Branchenvertreter nicht zurate gezogen haben. Tatsächlich hatte es Premierminister Cameron eilig, weil er selbst immer tiefer in den Abhörskandal verwickelt wurde. Er hatte den ehemaligen Chefredakteur der News of the World, Andy Coulson, zu seinem Pressechef gemacht. Coulson hatte das Boulevardblatt von 2003 bis 2007 während der Lauschangriffe geleitet. Deshalb steht er vor Gericht.

Cameron entschied sich, die Einsetzung des neuen Presserats nicht im Gesetz zu verankern. Um eine Debatte im Unterhaus zu umgehen, wählte er das archaische Instrument einer „Royal Charter“, einer königlichen Satzung, die am Mittwoch vom Kronrat abgesegnet und dann von Königin Elisabeth unterzeichnet wird.

Der Verlegerverband hat vorigen Mittwoch vor dem High Court Klage gegen die Satzung eingereicht. Das sei im Interesse der Pressefreiheit, sagte der Tory-Lord Conrad Black, Eigentümer des Daily Telegraph. Die Satzung ist nach Meinung der Verleger so schwammig formuliert, dass sie zur Unterdrückung unliebsamer Berichte eingesetzt werden könnte. Selbst Blogger seien davon betroffen.

Ein wichtiger Punkt sei die finanzielle Frage, warnt der Journalist Andrew Gilligan. Die Charta sieht vor, dass Beschwerden und Schadenersatzforderungen an Zeitungen vereinfacht werden und im Falle eines Prozesses ohne finanzielles Risiko für die Beschwerdeführer sein sollen. Das sei eine potenzielle Goldmine und erhöhe das Risiko für Zeitungen erheblich, glaubt Gilligan. Investigativer Journalismus werde behindert, wenn jedes Gespräch zwischen Journalisten und Polizisten von einem Beamten protokolliert werden müsse. Kein Polizist würde dann interne Unregelmäßigkeiten ausplaudern, sagt Gilligan. Darüber hinaus könnte die Regierung die nationale Sicherheit ins Feld führen, um Artikel zu unterdrücken – zum Beispiel Edward Snowdens Enthüllungen der NSA-Abhöraktionen.

Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, der als erstes Blatt über Snowdens Enthüllungen berichtet hatte, bezeichnete die Charta als „mittelalterliches Stück Unfug“. Der Verlegerverband will deshalb seine eigene Medienaufsicht einrichten. Sie soll ermächtigt werden, unabhängige Untersuchungen einzuleiten und Strafen bis zu einer Million Pfund zu verhängen. Ihre Entscheidungen sollen für die angeschlossenen Verlage bindend sein. Kulturministerin Maria Miller hat jedoch schon erklärt, dass man den Alternativvorschlag nicht in Erwägung ziehen, sondern auf der Regierungsversion beharren werde. Die Verleger werden diese Version aber nicht unterzeichnen, und dazu zwingen kann man sie nicht.

RALF SOTSCHECK