Besuch der zwei alten Damen

Ein Hauch von Pan Tau: Die tschechische Bohnice Com–pany zeigt in Münster zwei halbe Leben in der Psychiatrie

Das eigene Leben auf der Bühne spielen. Geht das? Vera Prckova und Marie Zeithamlova, zwei alte Damen aus Prag, versuchen es. Im Rahmen des internationalen Theaterfestivals „madness & arts“ in Münster traten sie als Hauptpersonen auf in dem Stück „Vera, Marie Tanci“. Vera und Marie tanzen. Die beiden Menschen, ein halbes Leben in der Psychiatrie untergebracht, erzählen in Episoden ihre Geschichte. Dabei werden sie unterstützt von der Bohnice Theater Company. Zusammen mit Marie und Vera sind es 18 Schauspieler. Fast alle verfügen über reichlich Lebens- und Psychiatrieerfahrung. Die Gruppe gibt es seit 1991. Manche kennen sich schon länger, aus der Klinik. Auch Vera und Marie. Inzwischen sind die meisten aus dem Krankenhaus entlassen, leben in betreuten Wohngemeinschaften. Aber ein Mal in der Woche treffen sich die ehemals Kranken zur Theaterprobe. Ein Jahr hat das Ensemble an dem Stück gearbeitet. Es ist gelungen. Zwei alte Damen erzählen von ihrem Leben, spielen ihr Leben.

Das Experiment funktioniert, weil tschechisch gespielt wird. Wie Pan Tau früher im Kinderfernsehen in eine Welt der Illusionen entführte, geleitet ein charmanter Conferencier mit Glitzerstaub im pomadigen Haar durch das Episodenleben zweier Frauen. Der galante Herr stolpert mit Taschenlampe durchs Publikum, versichert sich, dass jeder genug Licht hat. Das klingt nach Goethes letzten Worten. Aber ist das, was im Halbdunkel und in Rauchschwaden auf den Bühne zu sehen ist, erhellend? Zwei Schemen kämpfen mit zwei Stühlen, verrenken sich, tanzen. Über dem Geschehen ist eine Gestalt mit Krückstöcken und säulenschweren Beinen zu erkennen, eine Großmutter als Halbgott. Dann folgt der Krieg. Der zweite große Krieg, wie die eingeblendete Übertitelung erklärt. Unzählige Äpfel rollen über die Bühne. Behäbig wird ein alter Kinderwagen geschoben. Der Krieg, das war für Vera und Marie Äpfel klauen in Nachbars Garten. Oder war da doch noch mehr? Der eisig klingende Sturm lässt als Hintergrundmusik anderes erahnen.

Zwischen den Szenen, die fast schon reales Leben erzählen möchten, hat der Traum, auch der Wahn seinen Raum. Die kleine alte Dame Marie sitzt auf einem Klavierschemel. Die Locken sind mit einem Band nach hinten gebunden. Da taucht ein langbeiniger, langhaariger, junger Kerl aus dem Dunkel auf, umgarnt sie, küsst sie. Und plötzlich verweben sich die Haare. Der Hocker dreht sich. Eindeutig kreist der Hintern des Mannes. Spielt da die Marie ihren Wahn oder gar das, was sie als Kind mit einem Spinnenmann erleben musste? Die Grenzen bleiben unklar. Pan Tau.

Vera und Marie liegen unter Tischen. Auf den Tischen wird Kaffee getrunken. Vielstimmiges Schlürfen. Eine Frau hetzt umher, findet ihren Zug zur Arbeit nicht. Alle Züge wollen in eine andere Richtung fahren, zu einer anderen Zeit. Und all die Kaffeetrinker spielen „Reise nach Jerusalem“. Die Szene schmeckt nach der Tragödie, im Erwachsenenleben keinen Boden unter den Füßen zu spüren. Doch auch in Liebesdingen gibt es kein Glück. Eine Schöne mit langer dunkler Mähne und roter Rose im Haar irrt umher. „Helfen Sie mir. Streicheln Sie mich.“ Doch statt Liebe folgt Polka. Die Tische, die Stühle, die Bierkrüge scheinen mit den Menschen zu tanzen. Vera spricht dazu aus dem Off: „Die Kneipe gehört nicht ins Leben, aber mit Limonade stillst du den Durst nicht.“ Nicht viel Text muss übersetzt werden. Doch die paar Brocken haben es in sich.

Nach der Pause, oder nach der Hälfte des Lebens, treffen sich Vera und Marie. Sie finden Freundschaft. Sie sitzen in einem alten, staubigen Wohnzimmer, streiten um den Schweinebraten. Das Publikum darf endlich ein bisschen lachen. „Dein Liebhaber schmeißt immer Steinchen an das Fenster.“ Das klingt komisch, wenn zwei Siebzigjährige sich so unterhalten. Doch das kurze Lachen bleibt im Hals stecken. Ein Radiosprecher kündigt den nächsten Krieg an. Die alten Damen verschwinden unter einer gräulichen Wolldecke. Nur eine Utopie hilft. Vera und Marie wünschen sich in einen Wald, in dem das Rehkitz und nicht der Wolf regiert. Fast erträglich schon, diese Leichtigkeit des Seins. Das ganze Ensemble tanzt zum Schluss Tango. Es ist das Ende des Theaterstückes, das Sterben der beiden alten Damen. Vera und Marie schauen aus ihrem staubigen Wohnzimmer zu.

Im Saal wird es hell. Die Schauspieler setzen sich in einer langen Reihe von Klappstühlen an den Rand der Bühne. In der Mitte Vera und Marie in ihren Sesseln. Interessiert, sogar etwas verblüfft, schauen sie ins begeistert klatschende Publikum. Als könnten sie es nicht glauben, dass ihr Theaterstück, ihr Leben, so viel Applaus wert wäre. LUTZ DEBUS