Pädagogische Reduktion

Es geht um Geschichte, nicht um Politik: Ein deutsch-französisches Geschichtsbuch kennt nur große Männer, große Ereignisse und große Institutionen

Ein großes Projekt. Weltweit erstmalig. Und als Symbol so weitreichend wie einst das Foto von Mitterrand und Kohl, die auf einem Schlachtfeld von Verdun Händchen halten. Mit solchen Vorschusslorbeeren ist das „Deutsch-französische Geschichtsbuch“ angekündigt worden. In der Rekordzeit von nur drei Jahren ist es von einer Idee, die sich Spitzenpolitiker beider Länder auf einem Gipfeltreffen zu Eigen gemacht haben, zum fertigen Buch gereift, das schon vom kommenden Schuljahr an in den Abitur- und Baccalauréat-Klassen Frankreichs und Deutschlands eingesetzt werden kann. Ende vergangener Woche haben der französische Erziehungsminister Gilles de Robien und der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der auch Bevollmächtigter für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen ist, das Ergebnis vorgestellt. Sie taten das in Péronne in der nördlich von Paris gelegenen Region Somme. Am 1. Juli vor 90 Jahren begann dort die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs.

Die drei Kriege von 1870, 1914 und 1939, die Deutschland und Frankreich binnen 70 Jahren gegeneinander geführt haben, sind freilich gar nicht Thema dieses Buches. Sie sollen erst in einem zweiten Band behandelt werden, der folgt, falls der erste erfolgreich ist. Vorerst beginnt die deutsch-französische Geschichte mit Trümmerhaufen – und endet mit den Institutionen der EU. „Europa und die Welt seit 1945“ lautet der Titel des DIN-A-4-großen Buches.

Zehn GeschichtslehrerInnen von Gymnasien und Lycées – darunter zwei Frauen – haben das Buch gemeinsam entwickelt. Nach eigenem Bekunden waren dabei allein die methodischen Unterschiede groß. Denn an französischen Schulen wird bis heute „karthesianisch“ gepaukt und abgefragt. An deutschen hingegen „interaktiv“ diskutiert. Thematisch hingegen sei lediglich die Einschätzung der USA unterschiedlich gewesen. „Die Deutschen finden uns antiamerikanisch. Wir sie atlantizistisch“, fasst Guilleaume le Quintrec, Chef der französischen Equipe zusammen.

Der Mangel an inhaltlichen Kontroversen ist dem Buch anzumerken. Statt die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich nachvollziehbarer zu machen, haben die deutsch-französischen GeschichtslehrerInnen sie ausgeglichen. Die KPF, die lange Frankreichs stärkste Partei war, ist bei ihnen bloß ein Phänomen der Résistance. Über die deutsche Anti-AKW-Bewegung erfahren die SchülerInnen nichts. Wohl aber lesen sie, dass die Atombombe „wesentlich“ dafür gesorgt habe, dass es keinen Krieg zwischen den Supermächten gab. Die Argumente der KritikerInnen der EU-Verfassung kommen schlicht nicht vor. Die bislang intensivste Europadebatte seit Gründung der EU, die Anfang 2005 in der französischen Öffentlichkeit stattfand, während in Deutschland bloß Abgeordnete den Verfassungstext lasen, schrumpft im Buch zu einem nicht nachvollziehbaren „non“ zusammen.

„Hier geht es um Geschichte, nicht um Politik“, begründet das der saarländische Ministerpräsident. Und der Verantwortliche der deutschen Geschichtslehrer, Peter Geiss, fügt hinzu, es handele sich um eine „pädagogische Reduktion“. Tatsächlich hat sich seine Equipe wenig für soziale Bewegungen und stark für Institutionen und „große“ Männer (nur zwei der 48 Kurzbiografien handeln von Frauen: Thatcher und Merkel) sowie Ereignisgeschichte interessiert. Was in diesem Schema stört, wird ausgeblendet. Der „pädagogischen Reduktion“ fallen selbst die langjährigen Militärdiktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland zum Opfer.

Das erinnert an die teleologische Geschichtsbeschreibung in der DDR. Die benutzte einst sogar die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts, um den sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu rechtfertigen. Dieses Mal führen alle Wege in die EU. Bleibt die Hoffnung auf die LehrerInnen in Frankreich und Deutschland. Von ihnen, und dem Zusatzmaterial, das sie ihren AbiturientInnen, ihren Bacheliers und Bachelières liefern, hängt ab, ob das Buch eine Werbebroschüre für die EU bleibt, oder zum Ausgangspunkt für kritische Erörterungen wird. DOROTHEA HAHN

„Histoire/Geschichte – L'Europe et le monde depuis 1945“, Nathan, Paris bzw. Klett, Stuttgart, 336 Seiten plus eine CD, 26 €