INES KAPPERT Münchener Freiheit
: Dem Dogma entzogen

Glaube braucht ängstliche Menschen, Kunst verlangt Mut

Gläubige und auch viele Säkulare halten an der Kirche und damit am Glauben fest. Denn, der Macht des Faktischen und dem allgegenwärtigen Regime des Materiellen müsse dringend etwas entgegengesetzt werden, sagen sie. Einverstanden. Aber um das Diktum „Nur was ist, zählt auch“ als eine Fiktion unter vielen zu erkennen, braucht wirklich niemand notwendig eine Religion. Dafür gibt es die Vernunft und dafür gibt es die Kunst.

Immanuel Kant definierte die Vernunft als menschliches Vermögen etwas zu denken, das sich nicht beweisen lässt. Nur dank der Vernunft könne der Mensch sich Gott als höhere Instanz denken, ohne je seine Existenz beweisen zu können. Auch die Kunst tritt an, das Nichtbeweisbare in Worte oder Bilder zu fassen. Walter Benjamin hat dieses unfassbare Etwas einmal als „Aura“ umschrieben. Kunstwerke leben von der Kunst der Interpretation. Der einen, der ein für alle Mal formulierten Wahrheit, dem Dogma, entziehen sie sich. Ebenso wie der Reduktion aufs Faktische, aufs Material etwa. Kunst ist bekanntlich immer mehr als Farbe, Leinwand oder Zelluloid. Wer Kunst kennt (und liebt) weiß, dass die eigene Sichtweise nur eine unter vielen ist, und hat gelernt, mit der abweichenden Sichtweise in Kommunikation zu treten.

Wer hingegen sich dem Glauben verschreibt, will wiederholen. Er und sie gebrauchen Texte, die schon seit Jahrhunderten gelesen und aufgesagt werden, um genau in diesem Akt der wiederholten Anrufung des Außerirdischen Trost zu finden. Die Religion versucht, dem Einzelnen die Angst vor der ungesicherten Zukunft zu nehmen, indem sie einen Gott anbietet, der Ewigkeit verbürgt. Und bis der Mensch seinerseits das ewige Leben erreicht hat, versichert er sich und seines Glaubens in der Gemeinschaft der Gläubigen. Der Kirchentag zeugt davon.

Die Kunst hingegen akzeptiert die menschliche Unfähigkeit, in die Zukunft zu sehen oder die Vergangenheit objektiv zu begreifen. Ihr Metier ist das Experiment. Sie versteht Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft als Mischverhältnis, als Hybrid aus Gewusstem, Bewusstem, Unbewusstem und Vergessenem und Gespürtem – und setzt ihre BetrachterInnen dieser existenziellen Unsicherheit aus.

Der Glaube hingegen erneuert sich durch das Ritual und nicht durch Diskussionen. Er basiert auf Hierarchien und setzt immer einen ängstlichen Menschen voraus, der ohne einen über ihm stehenden Patriarchen nicht zurande kommt.

Die Kunst setzt eine BetrachterIn voraus, die davon ausgeht, dass sie die Bedingungen ihrer Existenz selbst herstellen und bestimmen kann – und trotzdem nie der Ungewissheit entkommt, ob es richtig ist, was er oder sie tut. Sie steht für die Gleichzeitigkeit der Erfahrung von Macht und Ohnmacht, Ermächtigung und Demut. Die Religion hingegen sieht sich stets im Recht, unablässig versucht sie, die Welt in Gut und Böse einzuteilen und wird nicht müde, dem Menschen zu erklären, wie armselig er ist. Genau das macht sie so trostlos.