Der ungeliebte Teil der Schrift

BIBEL Das Alte Testament ist vielen Christen fremd geworden. Doch das Klischee von Geschichten voller Gewalt und Rache verstellt den Blick auf weise Familiengeschichten

Das Alte Testament rechtfertigt die Gewalt nicht, sondern begleitet sie mit Trauer

VON ULRIKE HERRMANN

Die Christen sind von ihrer Bibel irritiert. Vor allem der Sinn des ersten Teils erschließt sich nicht jedem Gläubigen. „Brauchen Christen das Alte Testament?“, fragte etwa das evangelische Monatsmagazin chrismon im März. Die Antwort fiel erwartbar positiv aus. Das Neue Testament sei ohne das Alte Testament gar nicht zu begreifen, wurde den Lesern erklärt: „Jesus selbst verstand sich als gläubiger Jude.“ Obwohl die chrismon-Frage nur rhetorisch gemeint war, spiegelt sie die tiefe Verunsicherung, die viele Christen gegenüber dem Alten Testament erfasst. Denn der Gottesdienst ist ihnen meist keine Hilfe, die frühen Teile ihrer Bibel kennenzulernen. In den Predigten und Lesungen kommt das Alte Testament nur selten vor – und meist sind es dann Abschnitte aus Jesaja, der sich umstandslos auf Jesus beziehen lässt. Als erster Prophet Israels sah er einen Messias voraus.

Auch auf dem Kirchentag ist das Alte Testament eher eine Randerscheinung, wie sich schon bei den morgendlichen Bibelarbeiten zeigt. Am Donnerstag wurde zwar mit der Sintflut eine der Zentralstellen des Alten Testaments behandelt, aber am Freitag und Samstag ist dann mit einem Römerbrief und dem Matthäusevangelium das Neue Testament dran. Diese Verteilung ist prototypisch auch für die restlichen Veranstaltungen.

Zu viel Gewalt?

Zum Standardvorwurf an das Alte Testament gehört, dass es so gewalttätig sei – geprägt von einem zornigen Rachegott, der dem Motto folge „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der Gott des Neuen Testaments wird dagegen gern als gütiger Gott dargestellt, der den sündigen Menschen liebend vergebe. Den emeritierten Alttestamentler Jürgen Ebach empören diese Klischees: „Das am meisten von Gewalt durchzogene Buch der Bibel ist die Johannesoffenbarung am Ende des Neuen Testaments!“

Allerdings beschäftigt auch Ebach, dass das Alte Testament so grausam sein kann. Kain erschlägt seinen Bruder Abel, Gott will die Menschheit mit der Sintflut vernichten, und Abraham soll seinen geliebten Sohn Isaak opfern. „Drängende Fragen an Texte, die von Gewalt sprechen“, lautet daher ein Vortrag, den Ebach am Freitagmorgen auf dem Kirchentag hält. Dabei ist die Kernthese des Alttestamentlers: Die biblischen Gewaltdarstellungen beschreiben keine Norm, sondern sollen die Realität abbilden. Das Alte Testament rechtfertigt die Gewalt nicht, sondern begleitet sie mit Trauer. Die Erde ist eben kein Paradies mehr, seitdem Adam und Eva von der verbotenen Frucht gekostet haben.

Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Gott im Alten und im Neuen Testament: Beide konnten sie gewalttätig sein – und beide haben sie Liebe einfordert. Der berühmteste Ausspruch von Jesus „Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst“ stammt gar nicht von ihm, sondern er hatte damit das 3. Buch Mose zitiert.

Auch sonst ist es keine Seltenheit, dass das Alte Testament im Kirchenalltag rezipiert wird – aber von vielen Gläubigen für einen Teil des Neuen Testaments gehalten wird. Dies gilt vor allem für die Psalmen, die in jedem Gottesdienst und auch auf dem Kirchentag gebetet werden. So ist vielen Christen nicht bewusst, dass Jesu Klage am Kreuz „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ kein originärer Ausspruch von ihm selbst ist, sondern ein Zitat aus dem 22. Psalm.

Manche Bibelausgaben fördern sogar ganz bewusst das Missverständnis, dass die Psalmen zum Neuen Testament gehörten. So verteilt der Gideonbund kostenlose Bibeln, die vor allem in Hotels, Altersheimen und Krankenhäusern ausliegen und den programmatischen Titel tragen „Neues Testament und Psalmen“.

Trotzdem weckt das Alte Testament immer wieder Neugier. Wohl fast jeder Christ hat sich schon mal vorgenommen, die Bibel von Anfang bis Ende zu lesen, um endlich zu verstehen, wie die Geschichten von Jona im Walfischbauch, Hiob oder David und Goliath miteinander zusammenhängen. Doch die meisten Gläubigen bleiben bereits im Zweiten Buch Mose stecken, wenn die zahllosen Gesetzesvorschriften beginnen, mit denen Gott sein Volk Israel versorgte und die genau vorschreiben, wie „der Tisch für die Schaubrote“ oder „das Öl für die Leuchter“ beschaffen sein müssen. Pastor Frank Muchlinsky empfiehlt Laien daher, diese Teile zu überspringen und am Ende des Fünften Buchs wieder einzusteigen, das den Tod Mose schildert.

Muchlinsky gehört zu einer wachsenden Zahl von Theologen, die das Alte Testament neu entdecken und für innovative Formen des Gottesdienstes und der Bibelarbeit nutzen. Dazu gehören Bibliodrama und Bibliolog, bei denen sich die Gläubigen in biblische Gestalten versetzen, um deren Konflikte nachzuspielen und nachzuempfinden.

Texte mit dem Körper lesen

Auch auf diesem Kirchentag gibt es dazu eine eigene Werkstatt mit etwa 35 Veranstaltungen. Wie es im Programmheft heißt, sollen sich die Menschen mit „Körper Geist und Seele“ auf die biblischen Texte einlassen, damit sich die „uralten Szenen zu heilsamen, befreienden Erfahrungen“ verdichten.

Diese neuen Formen des Gottesdienstes werten das Alte Testament wieder auf. Gerade die Geschwisterkonflikte werden oft nachgespielt: Kain und Abel, Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. „In diesen Familiengeschichten liegt ein enormes Weisheitspotenzial“, sagt Muchlinsky. „Sie sprechen direkt zu uns.“

Das Alte Testament enthält aber auch Kuriosa. So ist bis heute ungeklärt, wieso das „Hohe Lied der Liebe“ aufgenommen wurde, denn in dieser erotischen Liebeslyrik kommt Gott überhaupt nicht vor.