Voodoo, Funk und Spirituals

FESTIVAL Das Jazzfest wählt in diesem Jahr verschiedene Wege nach Afrika: Mal gehen die Musiker den Umweg über die USA, mal kommen sie direkt aus Marokko oder Westafrika. Widersprüche werden nicht ausgeklammert

Afrika ist in diesem Jahr einer der Schwerpunkte des Jazzfests. Daran knüpft insbesondere der Pianist Joachim Kühn mit seinem „Gnawa Jazz Voodoo“-Projekt an, bei dem auch die Saxofon-Legende Pharoah Sanders beteiligt ist. Ein weiterer Schwerpunkt sind Bigbands der ungewöhnlicheren Art, wie Michael Riesslers elektrisierender „Big Circle“ und die „Wunderkammer XXL“ um den Pianisten Michael Wollny.

■ Haus der Berliner Festspiele, 31. 10.–3. 11., 7–55 €, Progamm: www.berlinerfestspiele.de

VON TIM CASPAR BOEHME

Afrikanische Musik hat dieser Tage hohe Konjunktur. Traditionen wie Highlife und Afrobeat oder neuere Strömungen von Hiplife bis Kuduro konnten sich vom irreführenden „Weltmusik“-Etikett weitgehend emanzipieren und werden endlich als das wahrgenommen, was sie sind: rhythmisch komplexe und zugleich sehr zugängliche Musikstile. In Europa erfreuen sie sich denn auch zunehmender Beliebtheit als Importgut.

Den Zustrom afrikanischer Flüchtlinge hingegen bewertet man in Europa bekanntlich ganz anders. So werden die Anhänger der Zivilisationen, deren Kultur man hierzulande oft schätzt, als zukünftige Nachbarn nur stark eingeschränkt begrüßt. Wenn das Jazzfest Berlin dieses Jahr einen Afrika-Schwerpunkt bietet, werden daher auch diese Widersprüche einer europäischen Perspektive nicht ausgeklammert. „Calling Africa – Fiktion und Wirklichkeit“ lautete etwa der Titel einer Podiumsdiskussion, mit der das Jazzfest Berlin 2013 am Mittwoch eingeleitet wurde und in der neben kulturellen zugleich politische und soziale Fragen erörtert werden sollten.

Jaimeo Brown zitiert die Gospelgesänge der Quilt-Flickerinnen aus Alabama

Auf musikalischer Ebene hingegen läuft es mit dem Zusammenleben deutlich besser, wie die verschiedenen Kollaborationen des Festivals zeigen. Insbesondere das Projekt „Gnawa Jazz Voodoo“ des deutschen Pianisten Joachim Kühn führt gleich drei Kontinente zusammen –Afrika, Europa und Nordamerika. Kühn, der in der Vergangenheit stets neue Dialogmöglichkeiten des Jazz mit anderen Genres erprobte, spielt hier zusammen mit dem marokkanischen Oud-Virtuosen und Sänger Majid Bekkas und westafrikanischen Griot-Musikern. Für energisches Saxofon-Spiel sorgt die US-amerikanische Legende Pharoah Sanders, ein Pionier des Ethno-Jazz, der in den sechziger Jahren nicht nur mit Größen wie John Coltrane oder Sun Ra zusammenarbeitete, sondern auch früh afrikanische Traditionen in seine eigenen Musik integrierte. Sanders kann daher als eine Inspiration für Kühns Projekt gelten.

Die jüngeren Vertreter der US-amerikanischen Jazztradition, die als afroamerikanische Musik aus der Vermengung von europäischen und afrikanischen Elementen entstand, knüpfen dieser Tage verschiedentlich an ihre Ursprünge an. So besinnt sich der 30-jährige Trompeter Christian Scott des musikalischen Erbes seiner Geburtsstadt New Orleans, aus der neben dem charakteristischen New Orleans Jazz unter anderem der Creole-Jazz hervorging. Auf seinem aktuellen Album „aTunde Adjuah“ kommen zudem jüngere afroamerikanische Genres wie HipHop, aber auch der Afrobeat Nigerias als Einflüsse hinzu.

Afrikanische Flüchtlinge bewertet man in Europa anders als afrikanische Musik

Dass selbst aus akademischen Abschlussarbeiten über spezifische afroamerikanische Entwicklungen faszinierender Jazz entstehen kann, beweist der New Yorker Schlagzeuger Jaimeo Brown mit seinem Debütalbum „Transcendence“. Brown beendete sein Jazzstudium mit einer thesis über das Thema „Der Einfluss der schwarzen Kirche auf den Jazz“, in der er sich mit den Gospelgesängen der Gee’s Bend Quilters, einer Gruppe von Quilt-Flickerinnen aus dem ländlichen Alabama beschäftigte. Deren Musik begeisterte Brown so sehr, dass er ihre Stimmen – ganz wie im HipHop – als Samples zitierte und um diese Spirituals herum eine Vielzahl von Jazzidiomen bis hin zu Free Jazz und Improv versammelte. Afrika kommt dabei noch einmal aus einem ganz anderem Blickwinkel ins Spiel: Die Quilters stellen Decken aus Baumwolle her – in einem Ort, der im 19. Jahrhundert eine Baumwollplantage war, auf der Sklaven gehalten wurden.

In starkem Kontrast zu dieser historischen Perspektive steht die Vorgehensweise des Gitarristen John Scofield und seiner Überjam Band. Scofield, der mit Rock und Blues begann und in den achtziger Jahren Miles Davis während seiner Fusion-Phase unterstützte, trat im Jahr 2002 zum ersten Mal mit der Überjam-Formation in Erscheinung. Gemeinsam mit seinen jungen Band-Kollegen greift der 61-jährige Jazz-Star nicht nur seine Fusion-Vorlieben auf, sondern erweitert diese um HipHop, Drum ’n’ Bass oder Dub: Afroamerikanische, afrokaribische und britisch-afrokaribische Musik stehen bei Scofield mithin gleichberechtigt nebeneinander – unbekümmert, gut gelaunt und souverän swingend. Auch wenn mit dieser virtuosen Genre-Kreuzung keine direkte politische Botschaft verbunden sein mag: Integrativ sind Scofields punktgenau-lässige Improvisationen und der virtuos-entspannte Groove seiner Mitstreiter allemal.