DAUMENKINO
: „Alphabet“

Patrick Kuhn war einst ein vielversprechender Amateurboxer, eine Verletzung beendete die Karriere. Heute schlägt er sich als vom Arbeitsamt gepeinigter Wachschutzmann durch. Mit seinem Hauptschulabschluss findet er keinen Ausbildungsplatz, der ihm eine befriedigende Perspektive verschaffen könnte. In den paar Minuten, die sein Film „Alphabet“ Kuhn widmet, gelingt Erwin Wagenhofer das eindringliche Porträt eines Menschen, der aus der Gesellschaft herauszufallen droht. Leider ist der Rest des Films ziemlich unerträglich.

Denn auch die existenziellen Sorgen der einstigen Nachwuchshoffnung dienen dem Film lediglich als Beleg für eine erschreckend plumpe und in der Tendenz antimoderne, regressive These: Fast alle Schulen sind „Abrichtungsanstalten“, die die „natürliche Kreativität“ der Kinder glattbügeln. Ohne Off-Kommentar reiht der Regisseur porträtartige Szenen aneinander, in deren Mittelpunkt jeweils ein Lehrer, Schüler, Wissenschaftler steht. Das Argument soll sich von selbst zusammensetzen. Das Problem: Das tut es auch.

Wagenhofer setzt in einer chinesischen Schule ein, die er mit einem Abgesandten der internationalen Bildungsstudie Pisa besucht. China schneidet bei Pisa gut ab, Wagenhofer aber hält wenig von chinesischen Schulen und noch weniger von Pisa. Beides sind für den Film Beispiele einer Ökonomisierung von Bildung, die sich am Ziel ausrichte, Menschen für den Markt fit zu machen und dabei das Wohl der Schüler übergehe. Auch das Ergebnis einer solchen Prägung zeigt Wagenhofer: ein Seminar für Angestellte der Unternehmensberatung McKinsey, bei dem erbarmungslose Worthülsen eingeübt werden.

Wie Wagenhofer sich statt dessen die ideale Schule vorstellt? Kinder, die Farbe an eine Wand klatschen unter der Aufsicht eines freundlichen Herrn, der eine Allergie gegen alles „Verkopfte“ und Abstrakte hat. Gerald Hüther, ein medial allgegenwärtiger „Bildungsprophet“, über den Martin Spiewak in der Zeit alles gesagt hat, was es zu sagen gibt, schwadroniert währenddessen über die vermeintlichen neurologischen Grundlagen der Idee vom natürlichen Genius des Kindes und seiner anschließenden Zurichtung. Eine Idee, die nur zu leicht mit autoritären Fantasien in eins fällt, wenn ein anderer Gewährsmann Wagenhofers „wuchtiges Handeln von oben“ zur Lösung der Bildungskrise fordert. LUKAS FÖRSTER

■ „Alphabet“. Regie: Erwin Wagenhofer. Dokumentarfilm, Deutschland 2013, 113 Min.