Ach, diese leichtsinnige Erinnerung

GESCHICHTE Gastmahl mit dem Freund und Schlächter: Ismail Kadare „Ein folgenschwerer Abend“

Realismus bedeutet für diesen Autor die Darstellung des Absurden

VON JÖRG MAGENAU

Ismail Kadare hat eine besondere Vorliebe für makabre und absurde Situationen aus dem Zwischenreich, in dem die Toten lebendig zu sein scheinen und die Lebenden wie Tote wirken. Das hat damit zu tun, dass die albanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, von der er unermüdlich erzählt, besonders makaber und absurd ist und viele Tote zurückgelassen hat, die möglichst geräuschlos verscharrt worden sind.

In dem Roman „Spiritus“ ging es um einen Spionagechef, der noch die Toten belauschte, indem er ihnen Wanzen in den Sarg setzte. Sein wohl berühmtester Roman „Der General der toten Armee“ handelt von einem italienischen General, der zwanzig Jahre nach Kriegsende die Knochen italienischer Soldaten exhumieren soll, im Laufe seiner Mission aber auch all die damals begangenen Verbrechen ausgräbt und in seinem Glauben an Ruhm und Ehre schwer erschüttert wird.

Im neuem Roman „Ein folgenschwerer Abend“ steht nun ein geheimnisvolles Gastmahl im Mittelpunkt, zu dem auch ein Toter gekommen sein soll. So jedenfalls will es das Gerücht. Und wie Gerüchte sich verdichten, wie Ereignisse sich auflösen in Unsicherheit und Unwissen, wie sie sich absetzen auf dem Nährboden der Spekulation und sich zu Mythen verdichten – diesen Prozess darzustellen gehört ebenfalls zu den Spezialgebieten Kadares. Ideologie mit allem darin gebundenen Idealismus ist bei ihm nichts als eine notdürftige Verkleidung eher niederer Instinkte.

Der „folgenschwere Abend“ ereignet sich im Herbst 1943 im südalbanischen Gjirokastra, wo Kadare 1936 geboren wurde. Er schreibt also über einen Ort und eine Zeit, die er als Kind miterlebte. Tatsächlich kommt in diesem Roman ganz am Rande sogar eine Familie Kadare vor. Doch die Stadt spricht mit vielen Stimmen, als wäre sie selbst ein Subjekt. Vor allem spricht sie über ihre beiden Chirurgen, den großen und den kleinen Doktor Gurameto.

An ihrem jeweiligen Stellenwert ist der Stand der Weltpolitik abzulesen, haben sie doch Bindungen nach Deutschland (der große) beziehungsweise Italien (der kleine Gurameto). Italien hat gerade kapituliert und sich überstürzt aus Albanien zurückgezogen, die deutschen Truppen rücken ein und tun so, als ob sie als Freunde kämen, die die albanische Selbständigkeit garantieren. Doch ein deutscher Spähtrupp wurde von Partisanen angegriffen; jetzt ist die Stadt stumm vor Angst und fürchtet die Vergeltung.

Da bekommt der große Gurameto eine Vorladung des Wehrmachtskommandanten, der sich als alter Studienfreund zu erkennen gibt, ihn aber trotzdem für den Anschlag verantwortlich macht. Wie konntest du nur, sagt er, empfängt man in Albanien so einen Freund? Wie passt das zu den Gesetzen der Gastfreundschaft? Zugleich lässt er Geiseln nehmen, denen die Erschießung droht, und auch Gurameto ist in einer schwierigen Lage. Er weiß sich in seiner Not nicht anders zu helfen, als den Deutschen zum Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Es wird getafelt, gefeiert, getrunken. Das Gespräch zwischen den beiden dauert die ganze Nacht und erinnert in seiner subtilen, das Gewaltverhältnis verschleiernden Höflichkeit an Quentin Tarantinos Film „Inglourious Basterds“.

Tatsächlich schafft es Gurameto, die Freilassung der Geiseln zu erwirken. Die Stimmen der Stadt sind nun – wie immer – geteilt. Ist Gurameto ein unerschrockener Held, weil sogar der Jude unter den Gefangenen freigelassen wird? Oder ist ein Kollaborateur? Oder hat er gar, wie ein blinder Sänger behauptet, einen Toten bewirtet? Tatsächlich belegt der weitere Verlauf der Geschichte, dass die Lebenden und die Toten nicht immer leicht zu unterscheiden sind.

Zehn Jahre später, die Kommunisten haben längst die Macht übernommen, wird Gurameto angeklagt, Teil einer internationalen zionistischen Ärzteverschwörung gegen die Führer des Kommunismus zu sein. Stalins Paranoia in Moskau und der Wahnsinn des albanischen Diktators Enver Hoxha ergänzen sich prächtig. Da aber Gurameto nicht wirklich etwas vorzuwerfen ist, kommt der Abend des Gastmahls wieder ins Spiel, der in den wochenlangen Verhören als Beweis seines Verbrechens herausgearbeitet wird. Die Gräuel, die sich im Folterkeller ereignen, erzählt Kadare im selben heiteren, leichten Ton, in dem er auch über die Verwicklungen zuvor berichtete. Der Wahnsinn, der die Handlungen der Protagonisten antreibt, beginnt auf diese Weise gespenstisch zu leuchten. Realismus ist die Darstellung des Absurden. Die Zeitgeschichte verliert ihren rationalen Grund und erscheint als seltsames Mysterium.

Kadare betreibt eine Art Umkehrung der Aufklärung: Am Ende weiß man gar nichts mehr, noch nicht einmal, ob die Geschichte sich so abgespielt hat und ob es all diese Menschen überhaupt gab. Sogar die Beteiligten selbst wissen das nicht mehr. „Ach, die leichtsinnige Erinnerung“, seufzt der Erzähler, „in der sich Gott weiß was zusammengesellte, uralte Dekrete und wohlgeformte Schenkel, herrliche Errungenschaften und der schlimmste Schweinkram.“ Und doch stellt Kadare die Zeitgeschichte vom Kopf auf die Füße. Er ist ein vom 20. Jahrhundert zutiefst ernüchterter Autor, der seinen grimmigen Humor aber nicht verloren hat.

Ismail Kadare: „Ein folgenschwerer Abend“. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. Ammann, Zürich 2010, 200 Seiten, 19,95 Euro