Wählen wir zu oft?
Ja

DEMOKRATIE Ständig wird gewählt. In Europa, im Bund und in den Ländern. Unliebsame Entscheidungen scheuen Regierungen vor Wahlen, droht dafür doch stets die Abstrafung

Silvana Koch-Mehrin, 39, ist Vorsitzende der FDP im Europäischen Parlament

Ja, wir wählen uns wirr. Egal, ob es sich um eine Landtagswahl, eine Kommunalwahl oder eine Europawahl handelt – jeder Urnengang wird als eine Testwahl für die Bundesregierung interpretiert, wer auch immer in Berlin regiert. Die Bürger müssen sich mit der Frage herumschlagen: Worum geht es gerade wirklich? Stimmen wir jetzt zum Beispiel über die Schul- oder Mittelstandspolitik in Nordrhein-Westfalen ab – oder über die Hilfen für Griechenland? So werden die Wähler verwirrt und die Politiker, die sich zur Wahl stellen, um eine faire Bewertung ihrer Arbeit gebracht. Das ist nicht gut für die Politiker, nicht gut für die Politik und damit nicht gut für die Menschen. Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland 15 Wahlen, im nächsten Jahr werden es 10 Wahlen sein. Weder den Bürgern noch den Politikern ist ein Dauerwahlkampf zuzumuten. Sinnvolle politische Arbeit braucht Zeit und auch Ruhe zum Nachdenken. Ich plädiere für weniger Wahltermine. Es sollte auch in einem föderalen Bundesstaat möglich sein, einen Weg zu finden, um z. B. Bundestags- und Europawahlen einerseits und – etwa in der Mitte der Legislaturperiode im Bund – Landtags- und Kommunalwahlen andererseits zu bündeln.

Tom Buhrow, 51, „Tagesthemen“-Moderator, war ARD-Korrespondent in Washington

Wahltermine zusammenzulegen wären natürlich eine praktische Sache. Ich kenne das aus den USA. Dort werden alle möglichen Wahlen, vom Präsidenten über die Abgeordneten bis hin zum Sheriff, auf einen Tag gelegt. Das hat viele Vorteile. Aber: In den USA werden auch alle Amtsträger direkt gewählt – als Person. Es gibt keine Parteienlisten. Deshalb gibt es keine Koalitionen, die platzen können, und deshalb auch verbindlich lange Amtszeiten. Bei unserem Wahlrecht, wo es bisweilen zu Neuwahlen kommt, weil etwa eine Koalition auseinanderbricht, würde sich in so einem Fall die Frage stellen, wer den Rest der Amtszeit regieren soll. Wir erwarten von unserem Wahlsystem, dass es die Stimmung in der Bevölkerung genau widerspiegelt. Aber: Ein häufig übersehener Zweck jedes demokratischen Wahlsystems ist auch, klare Mehrheitsverhältnisse hervorzubringen. Diesen Aspekt nehmen andere Länder wichtiger. Dort ist ein einheitlicheJar Wahltermin auch leichter umzusetzen.

Matthias Jung, 53, Diplom-Volkswirt und Vorstand der Forschungsgruppe Wahlen

Wir wählen zu oft, keine Frage. Die häufigen Termine auf den vier politischen Ebenen in unserem föderalen System verleiten die Politik, die seit ihrer Entideologisierung sowieso in immer kürzeren Zeiträumen denkt, noch stärker jeweils die nächste angeblich wichtige Wahl in den Blick zu nehmen. Schon gar, wenn jede Kommunalwahl in einem mittelgroßen Bundesland von den Medien zu einer Testwahl für Berlin erklärt wird. Politik neigt dann zwangsläufig wahlweise zu populistischen Versprechungen oder zum Hinauszögern von unpopulären Entscheidungen. NRW hat das eindrucksvoll gezeigt. Dass es dabei viel populärer gewesen wäre, die Steuersenkungsversprechen schon vor dem Wahltermin zu kassieren als einen Tag nach dem Wahldebakel von Schwarz-Gelb, zeigt zudem, dass Politiker noch nicht mal sicher in ihrem Urteil sind, was populär ist. Politische Veränderungen aber brauchen vor allem eines: Zeit. Zeit, um durchgesetzt zu werden, und vor allem Zeit, um Wirkung entfalten zu können. Das simple Zusammenlegen von verschiedenen Wahlen löst das Problem aber auch nicht. Es entstehen dann erst recht Testwahlen für den Bund und damit eine noch stärkere Ausrichtung von Wahlentscheidungen bei Kommunal- und Landtagswahlen an der aktuellen Bundespolitik – und das dann „gleichgeschaltet“ an einem Termin für eine Vielzahl von Kommunen und Ländern. Föderalismus kann sich so ganz sicher nicht entwickeln.

Nein

Jörg Schönenborn, 45, ARD-Wahlmoderator, ist WDR-Chefredakteur Fernsehen

Lasst den Wählern ihre Wahlen! Sie sind ein Akt der gesellschaftlichen Hygiene. Ja, der Wahlzettel ist ein Denkzettel, fast immer für Berlin. Aber was ist so schlimm daran? Die Nordrhein-Westfalen haben dem Rest der Republik aus dem Herzen gesprochen. Wären wir wirklich besser dran, wenn das Volk vier Jahre schweigend zusehen müsste? Das Problem sind nicht Wahlen oder Wähler, sondern die Parteien. Das Schlimmste wäre es, wenn sich die Parteien vier Jahre hinlegen könnten. Im Gegenteil: gut, dass sie sich regelmäßig stellen müssen. Und das Argument, vor Wahlen bemühten sie sich ohnehin nur um Wohlgefallen, ist 2010 endgültig widerlegt. Man kann dieser Bundesregierung nun wirklich nicht vorwerfen, dass sie wegen des Wahlkampfs populäre Politik gemacht oder Konflikte unter den Teppich gekehrt hätte.

Freya Klier, 60, Autorin und Regisseurin, kämpfte in der DDR für Bürgerrechte

Ich komme aus einem Land, in dem man überhaupt nicht wählen durfte, deshalb sehe ich es als Segen, zur Wahl gehen zu können. Ich setze mich jedes Mal mit den Kandidaten und Programmen auseinander, treffe Entscheidungen, beteilige mich aktiv am demokratischen Geschehen. Jede Wahl hat ihre Besonderheiten, eine Bundestags- ist anders als eine Kommunalwahl – man entscheidet nach anderen Kriterien. Von den häufigen Wahlen sind vielleicht die ermüdet, die in einer Demokratie aufgewachsen sind. Für sie ist Wählen leider selbstverständlich. Und dass Politiker es vermeiden, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, liegt an den Bürgern selbst: die meisten wollen einfach belogen werden. Nicht das Wahlsystem, sondern die Wähler müssen sich ändern.

Bernhard Vogel, 77, war CDU-Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Thüringen

Es gibt keinen intensiveren und längerfristigen Einfluss auf die Politik als die Wahl. Bei zusammengelegten Wahlen verliert jede einzelne Wahl an Profil, an Bedeutung. Ein Einheitswahltermin verführt zur Einheitsstimme. Sicher ist eine Landtagswahl ist ein politischer Stimmungstest. Aber: Keine andere Regierung sollte sich dadurch irre machen lassen. Wenn sie ihre Entscheidung überlegt getroffen hat und gut begründen kann, sollte sie bei ihrer Überzeugung bleiben, auch wenn der Stimmungstest einmal gegen sie ausfallen sollte. Ja: Landtagswahlen können Bundesratsmehrheiten verändern. Aber das Grundgesetz hat aus guten Gründen gewollt, dass die Macht in Deutschland geteilt ist. Die Bundesregierungen mussten immer wieder mit unterschiedlichen Mehrheiten zurechtkommen. Das wird auch der gegenwärtigen gelingen.

Frank Brettschneider, 45, Professor für Kommunikationswissenschaft

„Ständig wird gewählt.“ Was wie ein Stoßseufzer klingt, sollte ein Grund zur Freude sein. Erstens wären viele Menschen auf dieser Welt froh, wenn sie wählen dürften. Zweitens zeigen Studien, dass Wahlen Politiker „responsiver“ machen. So verhalten sich etwa die auf zwei Jahre gewählten Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus eher im Sinne ihrer Wähler als die auf sechs Jahre gewählten Senatoren. Von Wahlen geht also ein sanfter Druck aus, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Drittens: Wenn einige Politiker aus Furcht vor Abstrafung unliebsame Entscheidungen vermeiden, sind daran nicht Wahlen, sondern führungsschwache Politiker schuld. Sie sollten sich nicht wegducken, sondern unpopuläre Vorhaben erklären. Die Bürger sind nicht so dumm, wie ihnen oft unterstellt wird. Wir brauchen andere Wahlen statt weniger.