ROBERT MISIK MÜNCHENER FREIHEIT
: Die spirituelle Videoüberwachung

Auch für Ungläubige soll die Religion von Nutzen sein. Denn sie sorge für eine kollektive Moral, heißt es. Aber ist Norwegen wirklich moralisch verdorbener als Afghanistan?

Wer glaubt, dass es keine kollektive, verbindliche Moral mehr gäbe, der versuche einmal, sein Kind am hellen Tage auf einem belebten Platz zu verprügeln

Religiös Gläubige trennen scharf zwischen ihrem Binnendiskurs und dem Außendiskurs. In ihrem Binnendiskurs ist das Kriterium ihres Glaubens die „Wahrheit“. Sie glauben, beispielsweise, an Jesus, weil Jesus der Erlöser ist. Weil er auferstanden ist.

Aber manche Gläubige sind auch intelligente Leute und wissen, dass man mit solchen fragwürdigen Wahrheiten jene, die nicht an sie glauben, kaum hinter dem Ofen hervorholen kann. Für den Außendiskurs mit den Nichtgläubigen haben sie sich ein Argumentationsmuster zurechtgelegt, dessen zentrale Kategorie die der „Nützlichkeit“ ist. Es lässt sich so zusammenfassen: Magst du, Nichtgläubiger, auch die „Wahrheit“ des religiösen Glaubenssystems in Frage stellen, musst du doch zugeben, dass es immerhin nützlich ist, weil es Zusammenhalt unter den Menschen stiftet und sie mit verbindlichen Werten ausstattet.

Säkularisierung als Verwirrung

Der Fluchtpunkt dieses Argumentes: Die Menschen verhalten sich nur moralisch, wenn sie einen Gott über sich wähnen – einen, der sie im Auge behält. So eine Art spirituelle Videoüberwachungskamera. Säkularisierung wird in dieser Perspektive als große Verwirrung gesehen: die Leute würden nicht mehr wissen, wo sie Halt suchen sollen, und können Gut von Böse nicht mehr unterscheiden.

Aber gibt es dafür Indizien? Nun, wenn wir uns an die Fakten halten, dann wurden gerade in den vergangenen Jahren viele Böswilligkeiten begangen, weil Menschen meinen, ihr Glaube verlange das von ihnen. Ethnische Säuberungen, 11. September, „Kampf der Kulturen“, Mordanschläge auf Abtreibungskliniken. Werke von Extremisten, gewiss. Aber wenn wir einigermaßen objektiv sein wollen, dann stellt sich die Sache so dar: Es gab in der Geschichte viele gläubige Menschen, die sich ihres Glaubens wegen gut verhalten haben, aber es gab auch viele Menschen, die sich ihres Glaubens wegen schlecht verhalten haben.

Amerikanische Christen etwa haben ihres Glaubens wegen gegen die Sklaverei gekämpft – aber noch viel mehr amerikanische Christen haben mit religiösen Argumenten die Sklaverei legitimiert. Viele Menschen ohne religiösen Glauben haben leidenschaftlich gegen Ungerechtigkeiten gekämpft – aber auch viele Menschen ohne religiösen Glauben haben Ungerechtigkeiten begangen.

Norwegen, Sizilien und Afghanistan

Dass mehr Religiosität ein mehr an Moralität bedeutet, das ist ein Vorurteil, das durch keine Empirie gedeckt ist. Sind religiöse Gesellschaften moralischere Gesellschaften als relativ agnostische Gesellschaften? Würde jemand behaupten wollen, Sizilien habe ein höheres moralisches Niveau als Schweden? Dass Norwegen moralisch verkommener als Afghanistan ist?

Nun mag es durchaus eine Erosion der Bindekräfte geben, die größere Menschengruppen auf gemeinsame Werte verpflichten. Dies betrifft die einstigen „weltanschaulichen“ Lager aber auch nicht mehr als die Kirchen. Dabei ist wohl kaum ein Wachstum der Unmoral zu behaupten, aber die Moral tritt heutzutage gewissermaßen im Plural auf. In differenzierteren Gesellschaften gibt es keine Instanz mehr, die eine Moral für alle verbindlich oktroyieren kann. Insofern gibt es sicher Wertepluralismus.

Dass aber dieser Wertepluralismus dazu führe, dass es überhaupt keine kollektive, verbindliche Moral mehr gäbe, das ist ein Irrtum. Wer das glaubt, der versuche einmal, sein Kind am hellen Tage auf einem belebten Platz zu verprügeln. Er wird sofort feststellen, dass dies heute ein gesellschaftlich geächtetes Verhalten ist. Und zu dieser Ächtung haben eher fortschrittliche säkulare Kräfte beigetragen als die religiöse Moral.