: „In den Amerikaner gehört traditionell Ammonium rein“
DER BÄCKER Wenn manch andere zu Bett gehen, beginnt seine Arbeit: Ein echter Bäcker zu sein wie Lars Siebert ist ein hartes Brot. Doch Siebert hat Spaß an seiner Arbeit in seiner Backstube in Prenzlauer Berg, die noch immer fast so aussieht wie zu Wendezeiten. Er freut sich über die tägliche Abwechslung und dass er Kindern bei einer Betriebsführung zeigen kann, wie Getreide aussieht. Und was daraus wird: Vollkornbrot, Kürbiskernbrot, Mehrkornbrot, Plunder, Pfannkuchen, Splitterbrötchen, Mohnbrötchen, Streuselkuchen, Pflaumenkuchen, Croissants, Bienenstich, Amerikaner. Und Altberliner Schrippen
■ Die Bäckerei: 1906 kam Gustav Siebert aus Schönfließ in Ostpreußen nach Berlin. Beim Anblick des Straßenschilds „Schönfließer Straße“ im heutigen Prenzlauer Berg beschloss er, dort eine Bäckerei zu eröffnen und zu wohnen. 1930 übernahm sein Sohn Otto die Bäckerei, 1963 dessen Sohn Bodo und 1990 wiederum dessen Sohn Lars.
■ Der Bäcker: Lars Siebert, Jahrgang 1958, hat Lebensmitteltechnologie studiert und ist Bäckermeister. Seine Frau Catrin hat auch Lebensmitteltechnologie studiert und arbeitet als Verkäuferin in der Bäckerei. Siebert beschäftigt sieben Bäcker und sechs Verkäuferinnen und ist stellvertretender Obermeister der Bäcker-Innung Berlin.
INTERVIEW BARBARA BOLLWAHN FOTOS AMÉLIE LOSIER
taz: Herr Siebert, es ist jetzt halb neun Uhr morgens, im Verkaufsraum Ihrer Bäckerei herrscht Hochbetrieb. Wie haben Sie den Tag begonnen?
Lars Siebert: Kurz vor ein Uhr bin ich aufgestanden, um ein Uhr habe ich angefangen zu arbeiten. Ich bin um die Zeit noch etwas verschlafen und froh, dass ich nur fünf Minuten von zu Hause in die Bäckerei laufen muss.
Das verstehe ich gut …
Ich mache dann den Backofen an und gucke nach, wie der Sauerteig vom Vorteig geworden ist. Sauerteig muss bis zu 24 Stunden gehen. Der erste Teig ist so gegen halb zwei, zwei fertig. Dann wiege ich die Teigmengen ab für Mischbrot, Vollkornbrot, Kürbiskernbrot, Mehrkornbrot, Sonnenblumenkernbrot und so weiter. Die Kollegen formen daraus Brote, die bis gegen 3 Uhr garen.
Ich kriege Hunger!
Dann werden die süßen Teige gemacht für Croissants, Plunder, Pfannkuchen, Splitterbrötchen, Mohnbrötchen. Wenn das Brot genug gegart ist, wird es in den Ofen geschoben. Anschließend werden die ersten Kuchen angefangen, Streuselkuchen, Zuckerkuchen, Pflaumenkuchen, Bienenstich, Apfelkuchen und weitere Obstkuchen. Das geht bis etwa 4 Uhr, halb fünf.
Etwas fehlt doch noch: Was ist mit den Berliner Schrippen?
Richtig: Dann kommt der Schrippenteig dran. Da wir nicht ausliefern, müssen wir nicht schon um vier Uhr fertig sein. Das Orchester muss so funktionieren, dass die erste Fuhre rausgeht und noch warm ist, wenn wir 6 Uhr öffnen.
Für Sie ist um diese Zeit noch nicht Feierabend, oder?
Nein, bis Mittag machen wir weiter Brötchen- und anderen Teig, zum Beispiel für Mohnzöpfe, Croissants oder Blätterteig. Dann kommen die Torten, Kekse und anderen Dauerbackwaren dran. Einige Sachen müssen auch schon für den nächsten Tag abgewogen werden. Feierabend habe ich zwischen 10 und 12 Uhr.
Wonach steht Ihnen nach diesen Nachtschichten der Sinn?
Nach etwas Herzhaftem zum Mittagessen zu Hause! Dann mache ich noch ein bisschen Büroarbeit und gehe gegen 14 Uhr schlafen, bis um sieben zum Abendbrot. Um neun oder halb zehn Uhr lege ich mich ein zweites Mal hin.
Dann ist abends nicht so viel los mit Ihnen, oder?
Na ja, wenn ich ins Theater gehe und erst um Mitternacht zu Hause bin, bleibt mir nur eine halbe Stunde Schlaf.
Das ist hart.
Samstags oder sonntags geht das eher, weil die Bäckerei sonntags und montags geschlossen ist.
Gehen Sie gern ins Theater?
Ja, aber durch das frühe Aufstehen schaffe ich das nur ein- bis zweimal im Jahr. Und wenn wir im Sommer Urlaub und Zeit haben, machen die Theater leider auch gerade Ferien.
Welche Aktivitäten passen zu Ihrem Arbeitsrhythmus?
Jeden zweiten Mittwoch im Monat gehe ich zum Bäckerstammtisch. Der beginnt schon um 16 Uhr. Und die Skatrunde einmal im Monat trifft sich auch zeitiger als andere Skatrunden: schon um 18 Uhr. Die Mitspieler haben Verständnis, wenn ich spätestens um zehn im Bett sein muss.
Was machen Sie am liebsten, wenn Sie nicht in der Backstube stehen?
Erholen und ausspannen. Ich bin gern mit der Familie und Freunden zusammen, lese und gehe auch mal zum Fußball: zu Union.
Machen Sie regelmäßig Urlaub?
Ja, wir machen vier Wochen Betriebsferien in den Sommerferien.
Können Sie sich das leisten?
Lange Zeit waren wir die einzige Bäckerei, die das gemacht hat. Aber die Kunden sehen das ein, wir haben nur gute Erfahrungen damit gemacht. In der Woche vor dem Urlaub kaufen viele reichlich und frieren die Sachen ein, sodass es betriebswirtschaftlich auch okay ist. Noch gehen uns die Urlaubswünsche nicht aus, was sicher auch daran liegt, dass wir in unseren ersten 30 Lebensjahren in der DDR nur sehr eingeschränkt reisen konnten. Dieses Jahr waren wir mal wieder am Gardasee in Italien, wo wir unter anderem „Aida“ in Verona gesehen haben, und in Südtirol.
Sie haben das Geschäft 1990, kurz nach dem Mauerfall, von Ihren Eltern übernommen – ausgerechnet zwischen dem Ende der Mangelwirtschaft im Osten und dem Beginn der Marktwirtschaft im Westen. War das Familientradition und Pflicht?
Das war eine ganz bewusste Entscheidung für die neue Zeit. Meine Eltern waren etwas krank. Sie waren nicht die einzigen Bäcker um die 60, die sagten: Nee, das Neue machen wir nicht mehr. Zu DDR-Zeiten hätten meine Frau und ich die Bäckerei nicht übernommen wegen der Mangelwirtschaft und der Arbeitskräfte, die schwer zu kriegen waren.
Was haben Sie vor diesem Leben als Bäcker gemacht?
Nach dem Studium an der Humboldt-Universität – bei dem ich übrigens meine Frau kennengelernt habe – habe ich als Diplomingenieur im Ostberliner Backwarenkombinat in der Entwicklungsabteilung gearbeitet. Ich kenne also auch die industrielle Backwarenherstellung und deren Probleme. Die Arbeit bestand zu etwa 80 Prozent aus Schreibtischarbeit. Sie ist nicht zu vergleichen mit meiner jetzigen Handwerksarbeit. Meine Frau, die jetzt in der Bäckerei verkauft, hat bis 1990 in einem Ingenieurbüro Bäckerei- und andere Lebensmittelbetriebe projektiert.
Welche Erfahrungen aus dem Osten haben Ihnen genutzt?
Wir konnten davon profitieren, dass wir wirklich aus den Rohstoffen selbst die Endprodukte gemacht haben wie eine Hausfrau: Eier, Zucker, Mehl. Zu dieser Zeit hat im Westen zum Beispiel kaum jemand Sauerteig gemacht. Es wurden industrielle Fertigprodukte genommen, Starter, die relativ mild schmecken. Aber wir haben immer mit Sauerteig gebacken. Da lag auch ein bisschen Konfliktpotenzial drin.
Inwiefern?
Im Osten will man möglichst ein kräftiges, saures Brot, im Westen ist man ein relativ mildes Brot gewöhnt. Wir haben nach der Wende unser Brot weitergemacht wie vorher – und die Kunden schätzen das. Ein anderes Beispiel sind die „Amerikaner“.
Die runden Küchlein mit Zuckerguss und starkem Geruch nach Ammonium.
Ja, im Westen wurden die oft ohne Ammonium gemacht, da gab es Fertigprodukte aus der Tüte. Kunden, die Mitte der 90er Jahre zum Beispiel aus dem Rheinland hierhergezogen sind, haben in unsere Amerikaner gebissen und gesagt: „Was ist denn das? Da ist ja Ammonium drin!“ In Amerikaner gehört traditionell Ammonium rein, als Treibmittel, schon immer. Zu DDR-Zeiten war der Ammoniumanteil allerdings ein Drittel höher als jetzt.
Warum gab es in der DDR ausgerechnet ein Gebäck mit Namen „Amerikaner“?
Der Name ist deutlich älter als die DDR. Das Gebäck gab es schon zu Zeiten meines Urgroßvaters, also in der Kaiserzeit, wahrscheinlich sogar noch davor. Der Name stammt meines Wissens von den Ammonplätzchen ab, also Plätzchen mit Ammonium.
Sie haben Ihre Backräume und auch den Verkaufsraum im Großen und Ganzen gelassen, wie sie waren, als Sie sie übernommen haben – deshalb verströmen sie den alten Charme von früher.
Es kamen damals viele Vertreter und redeten uns ein, was wir alles Neues bräuchten. Es gab genug Kollegen, auch hier im Kiez, die neue Backöfen oder neue Ladeneinrichtungen gekauft haben – die sie dann nicht bezahlen konnten und aufgeben mussten.
Was haben Sie anders gemacht?
Wir haben nach und nach einige Geräte gekauft – eine Knetmaschine oder eine Anschlagmaschine, die ist zum Teigschlagen –, und wir haben einen Backofen angeschafft. Mehr nicht, weil nicht so viel Geld da war. Nach wenigen Jahren, als wir gemerkt haben, die neuen Läden der anderen Bäcker sehen alle gleich aus, so uniform, da haben wir gesagt, dass wir das nicht wollen. Auch die Kunden haben uns darin bestärkt.
Erfüllt Sie das mit Befriedigung?
Ja klar, das ist schon eine Bestätigung, die ich jeden Tag habe. Ich habe ja vorher im Büro gearbeitet. Aber hier in der Bäckerei, da kommt das Brot raus aus dem Ofen, es sieht gut aus und riecht gut, oooch, toll, da freue ich mich! So wie eine Hausfrau sich freut, wenn der Kuchen gelingt. Sind die Kunden dann auch noch voll des Lobes, ist das schon befriedigend.
Backen Sie noch nach Rezepten Ihres Großvaters und Vaters?
Ja, der Großteil der Kuchensorten, die wir übers Jahr machen, wird nach alten Rezepten gebacken. Anders sieht es natürlich bei Sachen aus, die es früher noch gar nicht gab, wie Körner- oder Sesambrötchen.
Immer wieder war und ist in Berlin vom „Schrippenkrieg“ zwischen Ost und West die Rede. Auf welcher Seite stehen Sie?
Solche Diskussionen nehme ich eher amüsiert zur Kenntnis.
Das geht?
Bis Mitte der 50er Jahre waren die Brötchen in West- und Ostberlin gleich. Es war vorgeschrieben, dass eine Schrippe 45 Gramm wiegt. Im Westen wurde das irgendwann aufgehoben, und im Konkurrenzkampf wurden die Brötchen immer aufgeblasener. Während Kunden sagen, unsere Schrippen sind Ostschrippen, würde ich eher sagen, es sind Altberliner.
Worauf kommt es beim Backen an?
Auf die Frische. Wir holen unsere Sachen aus dem Ofen und müssen sie nur zehn Meter weit in den Laden bringen. Die Rohstoffe müssen vernünftig sein, und man muss sich Zeit nehmen. Klar kann man manches schneller machen, aber die Alten waren ja auch nicht doof. Die wussten schon, was sie machten.
Das Magazin Der Feinschmecker hat vor einigen Monaten zum dritten Mal die besten deutschen Bäcker ausgezeichnet. Ihre Bäckerei gehörte zu den etwa 1.400 Bäckereien, die geprüft wurden, und zu den 19 Berliner Bäckereien, die ausgezeichnet wurden. Was bedeutet das für Sie?
Das ist natürlich eine schöne Anerkennung. Genauso freut es uns, wenn, wie es einmal passiert ist, Journalisten extra aus Japan anreisen, um über unsere Bäckerei zu berichten.
Sie sind auch stellvertretender Obermeister der Bäcker-Innung Berlin. Wie geht es der Branche in Zeiten tiefgefrorener Produkte, die inzwischen an jeder Ecke billig angeboten werden?
Mittelprächtig. Es gibt derzeit etwa 100 backende Betriebe, die in der Berliner Innung sind, und es kommen noch ein paar hinzu, die nicht in der Innung sind. Die Zahl ist in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. 1990 waren es aber noch 500. Es gibt immer mehr Backshops mit tiefgekühlter Industrieware, wie an den Tankstellen, die mit dem Aufbacken angefangen haben. Die Teigrohlinge kommen zum Teil aus China und werden uns von Vertretern für 2,5 Cent das Stück angeboten.
Werfen Sie die nicht achtkantig aus dem Laden?
Ich sage höflich: „Nein, danke.“ Viele Kinder wissen heute ja gar nicht mehr, was ein Bäcker macht. Einmal im Monat mache ich Führungen für Kindergärten. Die Kinder kommen aus Reinickendorf, Kreuzberg oder Tiergarten und fragen immer, ob ich auch Pizza und Döner mache. Oft wissen sie nicht, was überhaupt Getreide ist! Ich zeige ihnen dann Körner. Das ist richtig Aufklärungsarbeit. Aber ich mache das gern, damit die Kinder sehen, wo Brot und Brötchen herkommen und wie sie hergestellt werden.
Es eröffnen auch immer mehr Biobäckereien in der Stadt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Hierbei handelt es sich oft auch um eine Glaubens- oder Gewissensfrage: Bio- oder traditioneller Handwerksbäcker?
Und was für einer sind Sie?
Ein traditioneller Handwerksbäcker. Bei den Biobäckern gibt es – wie bei den traditionellen – gute und weniger gute. Aber nur ein kleinerer Teil der Kunden ist bisher bereit, auch die deutlich höheren Preise zu zahlen. Rentner, Handwerker, Arbeiter oder Schüler eher nicht. Wir wollen, dass sich unsere Produkte möglichst jeder leisten kann.
Wird eines Ihrer zwei Kinder einmal die Bäckerei übernehmen?
Meine Tochter ist 27 und macht Umweltforschung, sie hat natürliches Ressourcenmanagement studiert. Mein Sohn ist 23 und studiert Physik. Sie werden die Bäckerei also wohl nicht übernehmen.
Macht Sie das traurig?
Eher nicht. Meine Kinder sollen die Berufswahl schon selbst treffen – wobei ich ihnen ganz sicher nicht abgeraten hätte. Vielleicht führt einer der Mitarbeiter die Sache weiter. Da bin ich ganz guter Dinge. Wenn nicht, ist es eben nicht zu ändern. Es wäre natürlich um die Mitarbeiter schade, ich habe die Arbeitsplätze schon im Kopf. Außerdem würde es sich lohnen! Und Bäcker ist ein Beruf, der Spaß macht und abwechslungsreich ist – nicht nur übers Jahr, sondern jeden Tag. Man muss ein bisschen früher aufstehen. Aber daran gewöhnt man sich.
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