„Zelte versinken im Schlamm“

HUMANITÄRE HILFE In den syrischen Flüchtlingslagern fehlt alles – sogar Decken. „Save the Children“ versucht, den Bedürftigsten das Überleben zu sichern

■ ist Sprecherin des Beiruter Teams der Organisation „Save the Children“, einer der weltweit größten unabhängigen Kinderrechtsorganisationen, die Spenden sammelt, um Familien und Kinder in Krisengebieten zu unterstützen. www.savethechildren.org

INTERVIEW SILKE MERTINS

taz: Sie kommen gerade aus dem libanesischen Bekaa-Tal, wo die große Mehrheit der Flüchtlinge entlang der syrischen Grenze lebt. Eisige Temperaturen, Regen und Schneefall stehen bevor. Wie dramatisch ist die Lage?

Marion McKeone: In den informellen Flüchtlingslagern, die meist aus ein paar Dutzend Zelten auf einem gemieteten Acker bestehen, gibt es kein Abwassersystem, so dass die Zelte überflutet werden. Die ohnehin geschwächten Kinder bekommen Bronchitis, Lungenentzündung und andere Atemwegserkrankungen. Das wenige, was die Familien haben, wird durch den Regen beschädigt. Wir versuchen, in so vielen Lagern wie möglich Abwassersysteme zu installieren, damit der Regen abfließt und die Camps nicht im Schlamm versinken.

Sind die Grenzen zum Libanon noch offen?

Ja, es kommen täglich neue Familien, die buchstäblich nichts haben und oft schon mehrfach in Syrien geflüchtet sind. Die Kinder haben furchtbare Dinge gesehen, sind krank und mangelernährt. Wir versuchen uns auf die allerbedürftigsten Familien zu konzentrieren. Es geht jetzt erst einmal darum, dass sie den Winter überleben.

Wie können die Behausungen winterfest gemacht werden?

Viele Flüchtlinge leben in unfertigen Häusern, Betonkonstruktionen ohne Fenster und sanitäre Anlagen. Das deutsche Außenministerium unterstützt uns darin, diese Häuser winterfest zu machen. Wie geben den Familien 1.500 Dollar, verhandeln mit den Vermietern, so dass sie die elementaren Dinge wie Türen, Strom- und Wasseranschluss, einbauen können. Das ist ein neuer Ansatz und er funktioniert sehr gut. Auf diese Weise haben wir schon mehrere hundert Gebäude renoviert, sodass Tausende Menschen davon profitieren. Die Vermieter spielen mit, denn es hebt den Wert ihrer Gebäude.

Es heißt, dass viele Flüchtlinge nicht genug Decken haben. Nicht mal für derart Elementares reichen die internationalen Hilfsgelder?

Die Familien haben von allem zu wenig: Decken, Lebensmittel, Kleider, Geld, Heizöfen. Alle Hilfsorganisationen, selbst das UNO-Flüchtlingshilfswerk, sind unterfinanziert. Die internationalen Geber haben auf die Spendenaufrufe bisher nicht ausreichend reagiert.

Wie viel schlimmer ist die Lage der Binnenflüchtlinge in Syrien selbst?

Wir versuchen, sie zu unterstützen, aber der Zugang ist sehr schwierig. Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, Druck auf Damaskus auszuüben, damit wenigstens humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Insgesamt schätzen wir, dass zehn Millionen Syrer auf der Flucht sind, rund die Hälfte der Bevölkerung.

Der Libanon will nach der Erfahrung mit den palästinensischen Flüchtlingslagern, die bis heute existieren, keine neuen Camps. Ist das ein Vor- oder Nachteil?

Die Camps, in denen ich in Somalia und Nordkenia gearbeitet habe, waren die Hölle. Selbst mit dem besten Willen und ausreichend Mitteln verschlechtert sich der Lage der Menschen in Camps meistens sehr schnell. Oft leben sie dort wie in einem Gefangenenlager. Sie sind kurzfristig eine gute Lösung, aber sie bleiben fast nie kurzfristig. Und sie kosten das Geld, mit dem man bessere Lösungen finden könnte. Für den Libanon, der arm und politisch instabil ist, ist die Zahl der Flüchtlinge überwältigend. Im Verhältnis wäre es so, als würden 15 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Libanon steht vor dem Zusammenbruch. Kleine, informelle Camps – zumindest wenn sie ausreichend Hilfe bekommen – sind sicher die bessere Lösung.

Wieso können die syrischen Flüchtlingskinder nicht in die Schule gehen, wo sie es wenigstens ein paar Stunden warm hätten?

Der kleine Libanon hat die Kapazitäten nicht. Schon jetzt machen die Flüchtlinge mit rund einer Million Menschen ein Viertel der Bevölkerung aus. Eine Beschulung wäre enorm wichtig, denn die Kinder leben in winzigen Behausungen, sie haben den ganzen Tag nichts zu tun. Es gibt keine Bücher, keine Struktur, keine Normalität, nichts. Doch nur zehn Prozent der syrischen Kinder im Libanon gehen zur Schule. Wir werden den Anteil auf 30 Prozent erhöhen können, aber die meisten Kinder werden auch noch ein drittes Schuljahr verlieren. Wenn die Welt jetzt nichts unternimmt, wird eine Generation von traumatisierten, verstörten Analphabeten heranwachsen, für die es keine Zukunft gibt.