„Bolivien ist ein Modell für Lateinamerika“

Die linke Regierung Boliviens will die Öl- und Erdgasindustrie verstaatlichen. Das ist richtig und notwendig. Denn die eigenen Ressourcen zu nutzen, hilft mehr als alle westliche Entwicklungshilfe, so der Soziologe Pablo Solón

taz: Herr Solón, Bolivien hat jetzt zum dritten Mal eine Nationalisierung seiner Öl- und Gasvorräte eingeleitet. Steht nun der Sozialismus vor der Tür?

Pablo Solón: Nein, es handelt sich ja nicht um eine harte Verstaatlichung mit Enteignungen. So erklärt sich übrigens auch die verhaltene Reaktion der Börsen. Dass eine Nationalisierung geplant war, war ja kein Geheimnis, nur der Zeitpunkt und das genaue Ausmaß wurden nicht vorher bekannt gegeben. Es ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung des Volkswillens im Juli 2004, als die große Mehrheit der Bevölkerung für eine andere Energiepolitik stimmte, und eines Gesetzes, das das Parlament bereits im Mai 2005 verabschiedet hatte.

Wie stehen die Chancen, dass die Nationalisierung jetzt erfolgreicher läuft als früher?

Die Erdöl-Verstaatlichungen von 1937 und 1969 sind ja nicht gescheitert. Im Gegenteil, ökonomisch waren sie sogar sehr erfolgreich. Die gesamte Entwicklung der Chaco-Region im Südosten des Landes wäre ohne die Verstaatlichung der Dreißigerjahre undenkbar. Außerdem gab es einen Geldtransfer zugunsten anderer Regionen. Die Verstaatlichung des Bergbaus 1952 kam der Entwicklung des Landes ebenfalls zugute.

Aber die Staatsbetriebe waren korrupt und ineffizient?

Seit den Fünfzigern wurden die wichtigsten Posten unter den Mitgliedern der Regierungspartei aufgeteilt, das stimmt. Natürlich hätten sie viel effizienter sein können. Andererseits flossen vor den Verstaatlichungen nur ganz wenige Mittel in die Staatskasse. Selbst wenn man die Ineffizienz berücksichtigt, war der Unterschied enorm.

Dennoch: Wie groß ist die Gefahr, dass Korruption und Bürokratie den schönen Traum von der Umverteilung beeinträchtigen?

Heute besteht die Herausforderung darin, den staatlichen Erdölbetrieb YCBF mit funktionierenden Mechanismen für Transparenz und Kontrolle von unten neu aufzubauen, gerade um diesen Nachteilen vorzubeugen. Noch nie waren so viele Leute informiert und mobilisiert wie heute. Die Bedingungen für eine Kontrolle sind also günstig. Außerdem ist die Regierung Morales in ihren ersten hundert Tagen einen harten Kurs gegen die Korruption gefahren. Wer sich schuldig macht, wird bestraft, woher er auch kommt. Solange es dabei bleibt, bin ich zuversichtlich. Außerdem gab es seit der letzten Privatisierungswelle jede Menge Korruption, vor allem Vorwürfe, dass Gas und Öl ille- gal exportiert wurden. Die Buchführung der Ölmultis ist alles andere als transparent, sie haben mit Preisen getrickst. Der spanische Konzern Repsol deklarierte an der New Yorker Börse Erdgasvorräte Boliviens als die seinen, um bessere Notierungen zu erzielen.

Wird die venezolanische Erdölgesellschaft PDVSA künftig in Bolivien eine Rolle spielen?

Ja, aber Techniker und Firmen aus anderen Ländern werden dem staatlichen Erdölbetrieb YCBF auch helfen. Der Einfluss der Venezolaner wird oft übertrieben, da ist man dann gleich mit der „Achse des Bösen“ zur Stelle, mit Chávez und Castro.

Den größten Konflikt gibt es ja ausgerechnet mit dem brasilianischen Staatsbetrieb Petrobras, der in den letzten 10 Jahren über eine Milliarde Dollar in Bolivien investiert hat, mehr als jeder andere …

Ach, das wird von der Presse hochgespielt, das ist vor allem eine Kampagne der Rechten. Mit Petrobras gibt es keine grundsätzlichen Differenzen. Als Morales im Januar bei Lula war, hat er ihn zu dem Nationalierungsvorhaben befragt, und Lula hat ihm gesagt, er würde das genauso machen.

Aber Sie werden doch nicht bestreiten, dass Morales eher auf Chávez’ Linie liegt, oder?

Der jetzige Regierungskurs ist weniger das Ergebnis einer ideologischen Ausrichtung auf Venezuela und Kuba, sondern die Konsequenz aus dem „Gaskrieg“ im Oktober 2003, bei dem es 60 Tote gab, oder der Mobilisierung in El Alto im vergangenen Jahr, als 24 Tage lang die Zufahrtswege nach La Paz blockiert waren. Die Nationalisierung erfüllt die Forderung, die sich in den letzten Jahren in Bolivien herausgebildet und zum Sturz von zwei Präsidenten geführt hat.

Könnte die Nationalisierung ein Vorbild für andere lateinamerikanischen Länder sein?

Auf jeden Fall, auch wenn die Konstellation in jedem Land anders ist. In Ecuador zum Beispiel ist vor kurzem ein Erdölgesetz verabschiedet worden, das dem Staat einen viel größeren Anteil an den Gewinnen sichern soll als bisher. Das Bestreben, die natürlichen Ressourcen souverän für die eigene Entwicklung zu nutzen, anstatt von den milden Gaben der Entwicklungshilfe abhängig zu sein, ist sehr populär. Solche Prozesse zu unterstützen – das ist die beste Zusammenarbeit, die der Westen Ländern wie Bolivien bieten kann.

INTERVIEW: GERHARD DILGER