Rädelsführer will er nicht gewesen sein

Das Osnabrücker Landgericht hat das Verfahren gegen Vitali R. zum zweiten Mal eröffnet. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für den Kopf der Russenmafia. Doch der Anwalt des Angeklagten arbeitet mit allen Tricks

Sind’s 20 Seiten, sind es 30, die der Staatsanwalt am Osnabrücker Landgericht da runterrattert? Das Verfahren gegen Vitali R. hat mehrere Schichten, noch bevor es erneut eröffnet wird. Wie Mehltau haben die sich bereits um neun Uhr in der Frühe über den Vortrag der Anklageschrift gelegt: sieben Kilo Heroin, Erdbunker in Bad Iburg und so weiter und so fort, Kokain auch, Betäubungsmittel unbekannter Beschaffenheit, vermutlich wieder Heroin, weil es in den abgehörten Gesprächen hieß, dass man es spritzen könne, Rädelsführer, alles wie gehabt, die Minuten verstreichen, fast alles, wie 2004 schon vorgetragen.

Im März 2004 war erstmals der Prozess gegen den in Turkmenistan geborenen Deutschen eröffnet worden. Ein Fall, bei dem eine Autobombe in der City, eifrige Fahndungen und internationale Verstrickungen eine Rolle spielen. Im Sommer 2003 kommt es an der Costa Brava und in Mellenhorst zeitgleich zu Verhaftungen, bei der Durchsuchung einer Bar in Osnabrück werden Prostituierte aus Osteuropa ohne Aufenthaltsgenehmigung entdeckt. Weitere Spielorte sind Amsterdam und das weite Kasachstan.

Ein spektakulärer Fall. Und spektakulär geplatzt: Vitalis Bruder, der seine kriminellen Geschäfte unter dem Namen Tudscha abwickelte, wurde zwar verurteilt. Aber das Verfahren gegen Vitali, in dem die Staatsanwaltschaft den Denker und Lenker des Rauschgiftrings sieht, musste ausgesetzt werden. Ein Beweismittel war zu spät vorgelegt worden: geheime Überwachungsvideos aus seinem komplett verwanzten Haus. Deren Zweck: die mitgeschnittenen Äußerungen eindeutig zuordnen zu können. Nicht unwichtig in einem Strafprozess.

Diesmal sitzt die Schwägerin Larissa R. mit auf der Anklagebank, eine elegante blonde Frau, die als Beruf Zahnarzthelferin angibt, sämtliche gegen sie erhobene Vorwürfe von ihrem Anwalt zurückweisen und ankündigen lässt, fürs restliche Verfahren zu schweigen. In der Mitte der breitschultrige Eugen H., der den Künstlernamen „der Lockige“ getragen haben soll, aber nun einen Bürstenschnitt trägt und nicht in der Lage ist, ein Grinsen zu verkneifen, wenn der Ankläger wieder einen Namen falsch betont hat. Regungslos, würdevoll hingegen Vitali R.: Adlernase, scharf gezeichnete Brauen, sachlicher Haarschnitt, blassblaues Hemd. „Mein Mandant wird aussagen“, antwortet Jens Meggers auf die Frage des Vorsitzenden, er halte das für günstig in diesem Verfahren, „aber noch nicht jetzt“.

Man wird wohl einräumen, dass der Angeklagte in den Rauschgifthandel involviert war: Die Beweislast ist drückend. Der Anwalt wird Vitali R. als Mitläufer und kleines Licht in der Geschichte darstellen, davon kann ausgegangen werden. Meggers nennen manche, nach einem Münchner Star-Verteidiger, den „Bossi des Osnabrücker Landes“. Ehrensache, dass er einen Verhandlungstag nicht verstreichen lässt, ohne eine Duftmarke zu setzen: Er stellt den Antrag, das Verfahren gegen R. durch Urteil einzustellen. Zuständig sei „nicht die zehnte große Strafkammer“, sondern die Staatsschutzkammer in Oldenburg – weil nicht ausschließlich über Drogendelikte befunden werde. Und überhaupt hätte der Generalbundesanwalt informiert werden müssen. Schließlich habe das Landeskriminalamt behauptet, Kasachstan sei als sicheres Rückzugsgebiet für Kriminelle „geknackt“ – weil es Vitalis Bruder Tudscha ausgeliefert hatte. Ein Fall für den Generalbundesanwalt, folgert Meggers.

Richter und Schöffen ziehen sich zurück, pro forma, und weisen den Antrag zurück: Auch Meggers wird nicht geglaubt haben, damit durchzukommen. Aber einen Pflock ins Verfahren geschlagen hat der „Bossi des Osnabrücker Landes“ damit sehr wohl – an dem sich, wer weiß, vielleicht auch eine Revision festmachen lässt. bes