BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE
: Der Sachse in mir

Ein Urlaub im Elbsandsteingebirge ist nicht nur billig, er hat auch sozialen Mehrwert: Aufwärts geht hier immer

Mein Jugendfreund Thomas vertritt eine interessante Theorie über den Zusammenhang von sozialem Absturz und Landschaften. In einer Gegend, in der es Berge und Wälder gebe, in einer abwechslungsreichen Gebirgsregion etwa, könne die Stimmung der Bevölkerung nie wirklich abstürzen, ganz gleich wie hoch die Arbeitslosenquote sei. In flachen, eintönigen Landschaften hingegen stelle sich sofort ein Gefühl der Depression ein, wenn die Wirtschaft darniederliegt.

„Nimm den Osten“, sagte Thomas, der übrigens aus Bayern kommt, „im flachen Mecklenburg-Vorpommern herrschen Ödnis, Depression, Verlassenheit. In der Sächsischen Schweiz hingegen wandern Geringverdiener und Arbeitslose fröhlich durch Felslandschaften und Wälder. Die Landschaft rettet alles.“ Dieses Phänomen gab es auch schon zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre. Damals entdeckten die Arbeitslosen die Berge. Anderl Heckmair, einer der Erstbesteiger der Eiger-Nordwand und erwerbsloser Gartenbautechniker, pflegte seine ganze Habe in einem Fahrradanhänger mit sich zu führen.

Thomas Landschaftstheorie ging mir durch den Kopf, als ich mit den andern am Fuße der Großen Hunskirche lagerte, eines Felsens in der Sächsischen Schweiz. Ich hatte eine nostalgische Nacht hinter mir, in meinem Schlafsack auf der untersten Etage eines eisernen Doppelstockbettes, welches zur privaten Gruppenunterkunft der Familie J. im Grenzort Schmilka gehörte. Für zwei Nächte hatte ich sieben Euro in eine verbeulte Kaffeebüchse gelegt und noch einen Euro Trinkgeld dazu. Die mitgebrachte Milch, das Brot und die Butter reichten für das Frühstück. Netterweise durfte ich die Dusche im Familienbad benutzen, deren Zugang durch das Arbeitszimmer des Hausherrn führte. Das ist jedenfalls der billigste Urlaub seit meiner Tramperei nach Südfrankreich als Teenager.

„Manchmal legt man auch psychologische Sicherungen, Schlingen, von denen man nicht unbedingt erwartet, dass sie halten“, erklärte unser Kursleiter W. gerade. Da Bohrhaken in Sachsen in der Regel verboten sind, können sich Kletterer dort nur über Knotenschlingen sichern. Die Knoten werden in Risse oder die Schlingen um Felssanduhren gelegt und daran die Karabiner eingeklinkt. Wer weiter nach oben steigt, reißt mitunter die selbst gelegte Sicherung unversehens wieder heraus. Die Sachsen haben jedenfalls Vertrauen.

„Reversibel klettern“, sagt W., „das ist eine wichtige Regel. Man muss wieder alleine zur nächstunteren Sicherung absteigen können, wenn man nach oben nicht mehr weiterkommt.“ Wie wahr.

Am Fels gegenüber turnten zwei grauhaarige Männer barfüßig herum. Weil es zu Zeiten der alten DDR kaum Kletterschuhe zu kaufen gab, hat das Barfußklettern hier Tradition. Nebenan war eine Großfamilie in schlichten Anoraks und mit Kletterausrüstung angekommen. Die Großmutter entfaltete eine Decke, der Vater packte Wurstbrote für die Kinder aus. In den Dolomiten findet man solche Gruppen nicht, dort stößt man auf schwäbischstämmige Seilschaften in schwarz-roten Jack-Wolfskin-Jacken, die hoch über der Baumgrenze überteuerte Powerriegel verspeisen.

Doch hier fährt der Wind durch Bäume. Sandstein, rauschende Wälder, Anoraks und Wurstbrot – Erinnerungen stiegen in mir auf. Eine süddeutsche Kindheit in den 60er-Jahren. Kollege F. erzählt ja immer nur von den 15 Prozent NPD-Wählern in der Sächsischen Schweiz. Was aber doch heißt, dass satte 85 Prozent mit den Neonazis nichts am Hut haben. Ein paar Tropfen fielen vom Himmel, die Mutter nebenan deckte mit einer Plane Rucksäcke und Jacken fremder Bergsteiger zu, die sich gerade oben im Fels befanden.

W. stand jetzt auf dem Gipfel. Eine Knotenschlinge löste sich samt Karabiner aus der Wand und trudelte sanft am Seil nach unten. Nun ja. Nicht kleinlich sein. „Nachkommen!“ W. sicherte mich von oben. Es ist kitschig, aber: Ich find’s gut, wenn es aufwärts geht.

Fragen zum Absturz? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt KLATSCH