Gipfel der netten Wiener Atmosphäre

Hauptthema: wirtschaftliche Integration. In Wien treffen sich seit gestern 60 Staats- und Regierungschefs zum EU-Lateinamerikagipfel. Gleichzeitig gibt es eine linke Gegenveranstaltung. Venezuelas Präsident Hugo Chávez spricht auf beiden

AUS WIEN RALF LEONHARD

Venezuelas Präsident Hugo Chávez ist der prominenteste der 60 Staats- und Regierungschefs, die sich heute in Wien zum fünften Gipfel EU–Lateinamerika und Karibik treffen. Von der Konferenz sind zwar keine weltbewegenden Entscheidungen zu erwarten, doch so viel Prominenz auf einmal hat diese Stadt schon lange nicht erlebt. Da der bald 80-jährige Fidel Castro auf einen Besuch verzichtet, wird Hugo Chávez die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er zeigt sich nicht nur auf dem offiziellen Gipfeltreffen, sondern wird auch auf der Schlussveranstaltung des gleichzeitig stattfindenden Alternativgipfels reden, bei dem ein „Tribunal der Völker“ transnationale Konzerne anklagen will und Alternativen zum Neoliberalismus diskutiert werden sollen.

Der Gipfel selbst steht unter keinem allzu günstigen Stern. Eigentlich sollte die Integration das Hauptthema sein. Schon bald nach der Gründung des südamerikanischen gemeinsamen Marktes, Mercosur, im Jahr 1991 stellte die EU-Kommission ein Wirtschaftsabkommen in Aussicht. Der uruguayische Handelsexperte und Politologe Jorge Sienra, der jahrelang für Mercosur mit Europa verhandelt hat, gibt sich ernüchtert: „Man dachte, in vier bis fünf Jahren kann man eine gemeinsame Wirtschaftszone schaffen. Aber es zeigte sich, dass die Zollbefreiung und der Zugang zum Markt landwirtschaftlicher Produkte schwierig zu vereinbaren waren. Dann tauchten weitere Probleme bei der Industrieproduktion auf.“

In der EU ist man verärgert über die hohen Zölle, mit denen sich Lateinamerika gegen Industriegüter abschottet, die lateinamerikanischen Agrarproduzenten sind verstört, weil die EU ihre Subventionen für die Landwirtschaft nicht abschaffen will. Andererseits hat die EU die jüngste Erweiterung noch nicht verdaut und laboriert an der ungeborenen Verfassung.

Und in den lateinamerikanischen Regionalorganisationen geht es drunter und drüber. In Mercosur kriselt es zwischen Uruguay und Argentinien, weil eine finnische Zellulosefabrik in Uruguay die Gewässer des Nachbarlandes zu verschmutzen droht. Venezuela ist aus der Andengemeinschaft ausgetreten und will sich nun Mercosur anschließen.

Außerdem betreibt Präsident Hugo Chávez seine eigenen Integrationspläne. Gemeinsam mit Kuba hat Venezuela letztes Jahr die bolivarianische Alternative für Lateinamerika, kurz Alba genannt, aus der Taufe gehoben. Vor kurzem ist auch Bolivien unter seinem neuen Präsidenten Evo Morales beigetreten, und nach dem Willen der Gründer sollen nach und nach alle lateinamerikanischen Staaten folgen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ein Gegenmodell zum von Washington betriebenen kontinentalen Freihandelsgebiet, das unter dem spanischen Kürzel Alca bekannt ist und von Mexiko bis Argentinien von Basisbewegungen, Bauern und Indigenen heftig bekämpft wird.

Auf der Real 2006, einer Art Vorkonferenz vor zwei Wochen, wo Intellektuelle, Menschenrechtsaktivisten und andere Vertreter der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft sich austauschten, waren die Erwartungen an den Gipfel entsprechend nied-rig.

Wolfgang Dietrich, Politikprofessor aus Innsbruck, der dieses Treffen organisiert hatte, resümiert: „Ich denke, das wirklich Positive an dieser Einrichtung der Gipfel ist, dass sie geeignet sind, einen atmosphärischen Rahmen zu schaffen, in dem man sich über wichtige Fragen unterhalten kann. Allzu große Erwartungen über substanzielle Veränderungen würde ich an dieses Treffen nicht stellen.“