Wunder gibt es immer wieder

OPERNPREMIERE Sir Simon Rattle dirigiert an der Staatsoper „L’étoile“ von Emmanuel Chabrier, einem hierzulande unbekannten französischen Komponisten und Zeitgenossen von Verlaine und Manet

Ein atemloser Tanz rhythmischer und harmonischer Überraschungen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Wer die Oper liebt, ist Kummer gewohnt. Indisponierte Sänger, unmusikalische Regisseure, in Routine ergraute Dirigenten sind Alltag. Manchmal jedoch ereignet sich eine Art Wunder. Am Sonntag gab es in der Staatsoper ein solches. Als könnten sie es selbst nicht ganz fassen, standen am Ende Sir Simon Rattle, Jean-Paul Fouchécourt, Magdalena Kozena, Dale Duesing und viele andere vor dem Chor der Staatsoper, dankten dem Applaus, ein Lächeln des schieren Glücks im Gesicht.

Wunder dieser Art sind nicht das Ergebnis grandioser Einzelleistungen, sie kommen zustande durch glückliche Zufälle, durch das Zusammenspiel von Individuen, Talenten und Stimmungen, die sich vereinigen in einem flüchtigen Ereignis. Es ist das Ereignis der absoluten Kunst, das enthüllt, was hinter dem Werk, seiner Botschaft und auch seiner Aufführung steht, das also, was es selbst ist, abgesehen von seiner Bedeutung für andere. Plato hätte es die Idee genannt, und so gesehen hat sich die Staatsoper zum Ausklang der Saison und am Vorabend ihres Umzugs in das Provisorium des Schiller Theaters nichts weniger gegönnt als die Idee der Oper.

Natürlich war der Applaus einhellig und endlos, denn die Idee der Oper ist ganz einfach. Oper ist Unterhaltung, Musik, Tanz, Theater, und große Show. Emmanuel Chabrier verstand sich glänzend auf diese Kunst. Proust-Leser mögen seinen Namen kennen, in Deutschland ist seine Musik fast unbekannt.

Debussy, Ravel und Strawinsky haben ihn verehrt, er war befreundet mit Verlaine und Manet. Am 28. November 1877 wurde seine Oper „L’étoile“ in Paris uraufgeführt, dort also, wo sich die Reichen und Eleganten der Belle Époque zu treffen pflegten. Es gefiel ihnen nicht schlecht, manche aber fanden seine Musik etwas seltsam.

Das ist sie wirklich, denn unter der Hülle zeittypischen Frohsinns steckt ein unvergleichliches Meisterstück. Man muss es nur so spielen, wie Rattle es vormacht – vom ersten Takt an: Es geht los im Schnellgalopp, und man spürt geradezu, wie die Staatskapelle losrennen möchte. Aber Rattle bremst auf ein sehr moderates Allegro herunter, und schon gewinnen die nur scheinbar trivialen Floskeln dieser Ouvertüre eine Kraft und innere Spannung, die während der ganzen zwei Stunden der Aufführung nie mehr nachlassen wird. Wie im Fieber rauschen die drei Akte ohne Pause vorbei, in ständigem Wechsel von Chansons, Ensembles, Tänzen, Chören und Dialogen. Ein atemloser Tanz rhythmischer und harmonischer Überraschungen im Orchester begleitet Singstimmen, deren Kunst allein ein abendfüllendes Vergnügen wäre. Magdalena Kozena in der Hosenrolle eines schnöseligen Pariser Straßenhändlers zählt zu den wichtigsten Liedinterpretinnen der Gegenwart, Jean-Paul Fouchécourt als komplett blödsinniger König Ouf I. steht am Höhepunkt seiner dritten Karriere: Er war Saxofonist, dann Dirigent, bevor er als Sänger barocker Opern mit so gut wie allen namhaften Ensembles für Alte Musik zusammengearbeitet hat. Dazu Stella Doufexis, gewissermaßen ausgeliehen von der Komischen Oper, wo sie jeweils die gewichtigsten Hauptrollen übernimmt.

Alles klingt ganz selbstverständlich, mal ordinär, meistens ironisch und grotesk, selten auch ein bisschen lyrisch, was an der Handlung liegt: eher eine Farce als eine Komödie um einen Fantasiekönig, der gern einen Delinquenten pfählen würde, von seinem Astrologen daran gehindert wird und die Prinzessin, die ihm versprochen wurde, auch nicht heiraten kann, weil der Straßenhändler sie kriegt. Es gibt kein Äquivalent im Deutschen für diese Art des bis zur Pornografie erotisierten Amüsiertheaters, und so hat sich Dale Duesing nicht herumgequält mit aktualisierenden Deutungen. Stattdessen hat er sich von dem Bühnenbildner Boris Kudlicka ungefähr die Eingangshalle des „Grand Western“ an der Friedrichstraße nebenan nachbauen lassen, womit sich die Frage nach Ort und Zeit des Stücks erübrigt. Ebenso gut hätte Duesing selbst mitsingen können: als gefeierter Bassbariton bedient er im Hauptberuf praktisch das gesamte Opernrepertoire. Vielleicht ist das Wunder ja doch keines, sondern nur Musik für Musiker.

■ Weitere Vorstellungen am 19., 23., 27., 30. Mai