Kollektiver Taumel

„Überteuert verkaufen, billig einkaufen“: So ist der FC Sevilla Uefa-Cup-Sieger über Middlesbrough geworden

EINDHOVEN taz ■ Herbert Fandel darf nicht bei der WM pfeifen, deswegen wollte er es allen noch mal zeigen. Der Musiklehrer ließ das Spiel gut laufen, er fiel auf keinen falschen Faller herein und verteilte die gelben Karten spärlich. Kurz: Sein Stil war international, die Qualität auch.

Doch mit dem Abpfiff, als zehntausende Sevillistas sich die Stimmbänder kaputt sangen, verwandelte sich Fandel auf einmal wieder in den alten Bundesligaschiedsrichter. Ein halbes Dutzend siegreicher Spanier sprach bei ihm im Mittelkreis vor, um den Spielball mitzunehmen: Fandel wies sie allesamt kühl ab. Da half kein Bitten und Flehen. 4:0 im Uefa-Pokal-Finale gegen Middlesbrough, Sevillas größter Erfolg in der 100-jährigen Vereinsgeschichte – das berührte ihn nicht. Den Ball behielt er, Ordnung muss sein.

Der großen Sause tat das keinen Abbruch. Für den Provinzklub aus Andalusien, der sich seit dem Pokalgewinn von 1948 – damals noch Francos „Copa del Generalísimo“ – nur an Siegen gegen den Lokalrivalen Betis erfreuen konnte, ging am Mittwoch ein echtes Märchen in Erfüllung. „Das einzige Problem ist, dass nicht alle Menschen, die hier sind, den Pokal berühren können. Sie hätten es verdient“, sagte Kapitän Javi Navarro und ließ sich ein wenig von der eigenen Ergriffenheit rühren: „Dies entschädigt für all die Schmerzen meines Lebens“, sagte der berüchtigste Klopper der spanischen Liga. Dem zweifachen Torschützen Enzo Maresca verschlug es sogar regelrecht den Atem, als er sich die „Man of the Match“-Auszeichnung abholte. „Es ist praktisch unmöglich, sich das vorzustellen“, stammelte der 26-jährige Italiener, „es fällt mir sehr, sehr schwer zu erklären, was hier passiert ist.“ Dabei war es ganz einfach: Ein derart einseitiges Endspiel hat man selten gesehen. Sevilla führte die Engländer mit variablem Kombinationsfußball vor; alle zehn Feldspieler waren nie mehr als 40 Meter auseinander und machten es sich in den weiten Räumen zwischen Boros statischen Viererketten in Mittelfeld und Abwehr gemütlich.

Die Stürmer, Javier Saviola und Torschütze Luis Fabiano, tauschten mit den Flügelspielern Adriano und Jesús Navas immerfort die Positionen. Dann kamen auch noch die famosen Außenverteidiger Daniel Alves und David an den Strafraum – und die Engländer schlichtweg nicht mehr mit. Fast jeder Angriffszug brachte Gefahr. Mit intuitiven Impulsen wurde der Ball bewegt: ein Chaos-System, nahe am Ideal. „Sevilla ist jetzt die Hauptstadt des europäischen Fußballs“, sagte der stolze Trainer Juande Ramos. Wahrscheinlich spielt die Truppe in der nächsten Saison da, wo sie hingehört – in der Champions League.

Der vierte Platz in der Liga ist in Reichweite. Zwingend logisch war der Triumph am Mittwoch, aber doch verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Sevilla jedes Jahr seine besten Spieler abgibt. Ex-Lokalheld José Antonio Reyes will am Mittwoch die Champions League mit Arsenal gewinnen, Julio Baptista und Sergio Ramos wurden im Sommer von Real Madrid abgeworben. 75 Millionen Euro bekam Präsident José María del Nido für die drei; seine Philosophie lautet: „Überteuert verkaufen, billig einkaufen.“

Die siegreiche Mannschaft, dieses wunderbare Kollektiv, setzt sich aus jungen Nachwuchsspielern und anderswo gescheiterten Spielern zusammen: Saviola war mal der neue Maradona beim FC Barcelona, Luis Fabiano hatte mentale Probleme beim FC Porto, Maresca wollte sich bei Juventus nicht mit Patrick Vieira um einen Platz streiten, Frédéric Kanouté, der Torschütze des 4:0, konnte sich bei Tottenham Hotspur nicht durchsetzen. Torwart Andrés Palop war zweiter Torwart bei Valencia. Man kann ihnen nur wünschen, dass sie zusammenbleiben. Del Nido aber sagt: „Uns wird in Zukunft auch nicht die Hand zittern, wenn es darum geht, Spieler teuer abzugeben.“ Rechtsverteidiger Daniel Alves, den 23-Jährigen Brasilianer, könnte es als Nächsten treffen.

Er war der eigentliche Spieler des Spiels und hüpfte später mit Narrenmütze durch die Mixed Zone, weil ihm das größte Kunststück des Abends gelungen war: Er hatte dem strengen Fandel doch noch den Ball abgejagt.

RAPHAEL HONIGSTEIN