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Die Töchter im Feld der Jäger

Erst Jagd, dann Kleinfamilie? Die im Geschlechterdiskurs gerade wieder angesagte Jagdhypothese ist lange widerlegt

Die Wissenschaftlerinnen sehen auch auf Frauen, Mütter, Kinder und Tanten und finden alles andere als passive Gestalten

Was verbindet Martin Walser und Eva Herman? Der Mann, Martin, glaubt, er sei ein Jäger, und die Frau, Eva, fühlt sich wohl bei Kind und Herd, wenn er das Wild nach Haus gebracht hat. Das ist fünf Millionen Jahre nach dem Auftritt eines kleinen Hominiden in den Steppen Afrikas exakt jene Konstellation zwischen Männern und Frauen, die der australische Anatom Raymond Dart 1924 den ersten aufrecht gehenden Primaten zuschrieb und die unter dem begriff „Jagdhypothese“ bekannt wurde. Doch auch wenn sie im Geschlechterdiskurs gerade wieder hervorgekramt wird: Sie ist längst widerlegt.

Dart hatte aus einer Kiste mit verschiedenen Schädeln den eines Kindes herauspräpariert, das menschenähnliche Zähne und einen affenähnlichen Schädel aufwies. Der als „Kind von Taung“ berühmt gewordene Fund begründete die Spezies Australopithecus africanus, auf Deutsch: der Südliche Affe von Afrika. Affe ist in diesem Fall ein irreführender Name, denn heute weiß man, dass die Australopithecinen die ersten echten Hominiden waren. Es waren kleine Menschen – die Größten wurden nur 1,50 Meter hoch –, die im aufrechten Gang den Schritt aus den schützenden Bäumen und Büschen in den Wäldern Afrikas in die Savannen und Steppen gewagt hatten.

Dart nannte sie auch Raub- oder Mörderaffen, womit er ihr enormes Aggressionspotenzial kennzeichnen wollte. Für ihn war klar, dass die „Raubaffen“ in den kargen Steppen sich hauptsächlich von der Jagd auf Tiere ernährten. Die gemeinschaftliche, mit Hilfsmitteln betriebene Jagd war der entscheidende Unterschied zu allen vorher schon und heute noch existierenden anderen Affen.

Die Jagdhypothese – im Englischen als man the hunter-Theorie bekannt – besagt, dass die grausamen Jäger den wesentlichen Entwicklungsschub zur Herausbildung des heutigen Menschen bedeuteten. Werkzeuggebrauch, komplexe Sozialsysteme und die Vergrößerung des Gehirns durch die eiweißhaltige Fleischnahrung seien nur auf die Entstehung der Jagd zurückzuführen. Alles andere, was die frühen Menschen trieben, Früchte sammeln und Kinder großziehen zum Beispiel, gab es schon vorher und sei ohne Bedeutung für die Menschwerdung. Das heißt, die treibende Kraft in dieser Evolution waren die jagenden Männer. Frauen waren nur die Satelliten dieser Evolution, die ihnen das Essen bereiteten.

Das traf sich in den Zwanzigerjahren mit der allgemeinen Vorstellung der Primatensozietäten. Die Organisation wilder Affenverbände, fand etwa der amerikanische Psychologe und Begründer der modernen Primatologie Robert Yerkes, sei dominiert von motorisch aktiven Männchen, die das Terrain für passive Weibchen sichern. Die auf den aktiven Mann zentrierte und die passive Frau höchstens so nebenbei in Augenschein nehmende Primatensoziologie änderte sich erst in den Siebzigern. Das hatte verschiedene Gründe. Einmal galt die man the hunter-These konservativen Sozialwissenschaftlern in den USA auch als Rechtfertigung des Vietnamkriegs, was einigen denkenden Männer zu weit hergeholt war. Zum anderen wird die Primatologie in diesen Jahren zu einer auch institutionell von Frauen dominierten Wissenschaft. Mit „dem Auftritt der Töchter im Feld des Jägers“, wie die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway die die Universitäten erobernden Primatologinnen treffend beschreibt, ändert sich der Blick. Die Wissenschaftlerinnen sehen auch auf Frauen, Mütter, Kinder und Tanten und finden alles andere als passive Gestalten. Sie entdecken soziale Netzwerke, die wesentlich mehr sind als die Koevolution von gewalttägigen Jägern. Und sie sehen das erste Mal auch bei den Affen näher hin. So findet zum Beispiel Jane Goodall bei freilebenden Schimpansen ausgeklügelte Formen des Werkzeuggebrauchs und auch Formen kooperativer Jagd auf andere Affen.

Die Empirie der Primatologie ließ so die Implikationen und Schlussfolgerungen der Jagdhypothese zum Mythos werden. Damit war auch die Hypothese widerlegt, dass die Kleinfamilie die direkte Folge der Jagdpraxis sei. Es gibt jagende Affen, die alles hervorgebracht haben, was man sich denken kann, eine Bruderdynastie, ein Matriarchat und selbst Kobetreuungssysteme für Neugeborene. Nur eine Kleinfamilie wird man unter den Jägern nicht finden.

CORD RIECHELMANN

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