Sehen – und ja, auch wiedersehen

HEIMAT Zehn Prozent der Leute in Gütersloh haben aramäische Wurzeln – ein Alleinstellungsmerkmal. Mit Beerdigungssendungen im aramäischen Lokalfernsehen hält sich die Community auf dem Laufenden

■ Die Menschen: In Deutschland leben mehr als 100.000 Menschen, die aramäischer und damit urchristlicher Herkunft sind. In Gütersloh, einem ihrer Zentren hierzulande, sind es allein etwa 10.000. Aramäer, für die nicht der Glaube identitätsstiftendes Kriterium ist, nennen sich Assyrer. In ihrer Herkunftssprache gibt es diese Unterscheidung nicht, dort nennen sich Mitglieder beider Richtungen Suryoye.

■ Das Exil: In Ländern ihrer angestammten Heimat wie der Türkei, dem Irak und Syrien wurden Aramäer verfolgt. Viele flüchteten und gelangten im 20. Jahrhundert auch nach Deutschland.

VON LEYLA DERE

Gütersloh, die Stadt von Bertelsmann und Miele. Und: Stadt der Aramäer in Deutschland. Schon am Bahnhof hört man sie: „Shlomo, aydarbo hat?“ Hallo, wie geht es dir? Aramäisch – nicht nur Jesus sprach diese Sprache, sie war Lingua franca des Reichs der Assyrer, der Perser und das der Pharaonen. Wie heute das Englische in einem Großteil der Welt.

Vor dem Bahnhof halten Busse, gegenüber ein Multiplex-Kino, rechts Babylon-Grill. Wer über die Kaiserstraße geht, erreicht das alte Stadtzentrum: ein kleiner Kirchplatz, umgeben von Fachwerkhäusern. Dahinter ist alles größer und grauer, mit Karstadt, der Fußgängerzone, mit Standard und Franchise.

Und dennoch hat Gütersloh was Eigenes: aramäische Cafés und Lebensmittelgeschäfte. Über die Stadt verteilt gibt es mehr als 100 aramäische Unternehmen: Gold- und Brautmodengeschäfte, Fußballvereine und Arztpraxen. In der Stadtbibliothek wird Kindern in aramäischer Sprache vorgelesen.

Die meisten Aramäer und Aramäerinnen in Gütersloh stammen aus der Türkei. Nach dem türkischen Militärputsch 1979 flohen ganze Dorfgemeinschaften nach Europa. Als die Asylbewerber in Deutschland auf die Kommunen verteilt wurden, entschied der damalige CDU-Stadtrat, die christlichen Aramäer aufzunehmen. „Wir wollten eine homogene Gruppe, die wir zusammen betreuen können“, sagt der Integrationsbeauftragte Eckhard Sander.

In den 90er Jahren entwickelte Gütersloh solch einen Sog auf Aramäer, dass sie aus ganz Deutschland kamen, um hier mit Verwandten, Freunden und Nachbarn aus der alten Heimat zu leben. Heute gibt es allein in Gütersloh drei aramäische Kirchen. Und in einem ehemaligen Fitnessstudio sogar einen aramäischen Fernsehsender.

„Hey, das bist doch du!“

„B’cher athitu, shfa’u“ – „Willkommen, tretet ein“, sagt Sabri Boulus zu seiner Tochter, dem Schwiegersohn und den vier Kindern. Alle nennen ihn nur „giddo“ – Großvater. In seinem Wohnzimmer stehen drei Sofas, zwei Kronleuchter hängen an der Decke, ein Marienposter in einem hellblauen Plastikrahmen hängt an der Wand. Der Fernseher läuft. Aramäische Nachrichten – „Tebe suryoye“. „Guten Abend, verehrte Zuschauer“ – „Shlomo a’alaichun mfardjone myaqre“, so ertönt es jeden Abend um 19 Uhr auf Suryoyo Sat, dem Sender. Der US-Außenminister John Kerry spricht. Ein Krieg in Syrien sei unumgänglich, sagt er. Der Großvater spuckt in Richtung Fernseher. Er stammt aus der Türkei, wurde aber in Syrien geboren. Wie viele Aramäer hat er Verwandte dort. „Zwei unserer Bischöfe wurden im April in Aleppo entführt, ihre Leibwächter ermordet“, sagt der Schwiegersohn, der in Deutschland geboren wurde. Seine Kinder indes interessieren sich nur für die Nüsse auf dem Tisch.

Wie viele Aramäer tatsächlich in Gütersloh leben, weiß niemand. Aramäer zählen nicht einzelne Personen, sondern Familien. Geschätzt wird, dass über 10 Prozent der 95.000 Einwohner aramäischer Herkunft sind.

Aramäer unterscheiden sich dem Aussehen nach kaum von Arabern und Türken. „Wenn ich zum Aramäer einkaufen gehe, sage ich, ich geh zum Türken“, sagt ein Gütersloher und greift zu den typisch aramäischen Wassermelonenkernen – einem Produkt „made in Gütersloh“. Die gebe es sonst nirgends. Die meisten Aramäer aber wollen sich von Türken oder Arabern abgrenzen. Deshalb geben sie ihren Kindern gern europäisch-christliche Namen. Manche lassen sogar ihre türkischen Nachnamen ins Aramäische ändern. „In der Türkei haben wir unseren Sohn Gabriel getauft, auf dem Papier hieß er Murat“, sagt die Verkäuferin der Wassermelonenkerne. Aus Angst hätten sie das gemacht: zu Hause Gabriel, draußen Murat.

Beim Großvater läuft nach den Nachrichten die Sendung mit den Beerdigungen. Ein traditionell wichtiges Ereignis für Aramäer. „Hey, das bist doch du“, sagt der Schwiegersohn zum Großvater. „Und da ist mein Bruder“, sagt der. „Wann war die Beerdigung?“ – „Vor drei Wochen“.

Es folgen weitere Beerdigungen, eine Stunde lang. Melancholische orientalische Musik untermalt die Bilder von weinenden Frauen. Die Aufnahmen sind teils verwackelt und unscharf. Aber alle schauen die Beerdigungen gern. Nur die Kinder liegen auf dem Teppich und malen. Manchmal laufen auch Hochzeiten und Priesterweihen. „So bleiben wir immer auf dem Laufenden“, sagt die Großmutter und fragt die Kinder: „Qashto simlach Kutle?“ „Ja. Ja.“ Die Kinder wollen Kutle, eine aramäische Spezialität: aus Weizengrieß geformte Maultaschen mit Hackfleisch, in Wasser gedämpft.

Zwischen den Beerdigungen schaltet der Großvater auf türkische Nachrichten um. Das junge Paar protestiert, es verstehe kein Wort. Die Kinder betteln, sie wollen deutsches Fernsehen. Es gibt auch eine aramäische Kindersendung: „Madrashto dilan“ – „Unsere Schule“, mit Martha Gabriel. Es geht um Geschichten aus der Bibel. „Meinen Enkeln ist die Sendung zu langweilig“, sagt der Großvater. Martha Gabriel ist von Beruf Fleischerin. Alles, was sie über Medien weiß, habe sie sich selbst beigebracht, wie alle bei Suryoyo Sat.

Nach den Beerdigungen wird auf den Konkurrenzsender Suryoyo TV umgeschaltet. Der arbeitet etwas professioneller. Die Mitarbeiter von Suryoyo TV bezeichnen sich selbst als Assyrer.

Viele Aramäer aus der Türkei können Aramäisch weder lesen noch schreiben. Die Sprache war dort verboten

Assyrer und Aramäer sind das gleiche Volk. Einziger Unterschied: Die Aramäer sind christlich-nationalistisch, die Assyrer säkular-nationalistisch. Es ist kein ethnischer, sondern ein politischer Konflikt, der manche Familie zerreißt, wenn sich einige Assyrer, andere Aramäer nennen. In der Türkei haben sich noch alle Suryoye genannt. Die einen sehen sich als direkte Nachfahren der Assyrer, die anderen identifizieren sich mit der christlichen Geschichte und lehnen eine Verwandtschaft mit den historischen Assyrern ab.

Im Saal des Assyrischen Vereins Gütersloh laufen die Nachrichten des libanesisches Fernsehen. Viele hier stammen aus Syrien. Auf den aramäischen Sender Suryoyo Sat sind sie nicht gut zu sprechen. Er säe Zwietracht, sagt ein Vereinsmitglied. „Diese ständigen Beerdigungen und Hochzeiten, das ist doch schrecklich“, sagt ein anderer. Der Vereinsleiter, Aziz Gersho, findet, dass Suryoyo Sat auf sehr niedrigem Niveau seinen Zweck erfülle. „Er hält unsere Leute zusammen.“ Ein Dritter findet, „beide Sender taugen nichts“. Der eine sei zu religiös, der andere politisch zu einseitig.

„Ist das nicht Afrem?“

Der Großvater in seinem Wohnzimmer schaltet wieder um auf Suryoyo Sat. Shleimun Ego, ein beliebter Moderator aus Stockholm, ist in Gütersloh, um durch eine dreistündige Sendung zum 30-jährigen Bestehen des Dachverbands der Aramäer in Deutschland zu führen. Die Kinder sind schon eingeschlafen. Die Kamera schwenkt ins Publikum. „Ist das nicht Afrem, der Sohn von Shim’on?“, ruft jemand in die Runde. „Und wo ist Rehhane?“, fragt der Großvater. Es geht um Sehen und Gesehenwerden. Kaum jemand hört zu. Am nächsten Abend wird die Sendung wiederholt.

Es werde noch Jahre dauern, bis der Sender professionell ist, glaubt der Moderator Shleimun Ego. Es fehle an Nachwuchs. Die Jugendlichen schämten sich, vor der Kamera zu agieren, weil ihr Aramäisch schlecht sei. In Europa sei die Sprache anerkannt, aber sie müsse gepflegt werden. Die meisten Aramäer aus der Türkei jedoch können Aramäisch weder lesen noch schreiben. Dort war die Sprache verboten. Erst seit 2011 kann man sie an der Artuklu-Universität in Mardin lernen, einer Stadt an der syrischen Grenze, wo die meisten Aramäer herkommen, aber schon lange nicht mehr leben.