Staat bringt kleines Opfer

Nur jedes zehnte Verbrechensopfer beantragt staatliche Hilfe. Der Grund: Kaum jemand kennt das Opferentschädigungsgesetz. Dabei trat es bereits heute vor dreißig Jahren in Kraft

VON SIEGFRIED SCHMIDTKE

Das staatliche Gewaltmonopol ist keine Einbahnstraße mehr. Seit dem 16. Mai 1976 steht der Staat auch in der finanziellen Verantwortung, wenn seine BürgerInnen zusammen geschlagen oder Opfer eines anderen Verbrechens werden. Im Jahr 2005 zahlte das Land NRW 47 Millionen Euro nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aus. Und eigentlich müsste es viel mehr sein.

Denn der Bankangestellten, die Opfer eines Überfalls wurde, die Geisel einer Flugzeugentführung, dem Spaziergänger, der in eine Fußballschlägerei geriet oder der vergewaltigten Frau ist das Opferentschädigungsgesetz meist gar nicht bekannt. Für Veit Schiemann von der Opferhilfsorganisation „Weißer Ring“ ist das „beschämend“ – dreißig Jahre nach Inkrafttreten des OEG.

Auch der Weiße Ring wurde 1976 vom ehemaligen ZDF-Fernsehfahnder Eduard Zimmermann in Mainz gegründete. Heute helfen 2.800 überwiegend ehrenamtliche Mitarbeiter im gesamten Bundesgebiet beim Antrag auf Leistungen nach dem OEG, vermitteln Rechtsanwälte sowie Beratung und therapeutische Hilfe. Die Unbekanntheit des Gesetzes ist für Schiemann der Hauptgrund für die klaffende Lücke zwischen der Zahl der Opfer und der Zahl der Anträge auf Leistungen: „Von etwa 200.000 Kriminalitätsopfern im Jahr 2005 haben nur zehn Prozent bei den Versorgungsämtern einen Antrag auf Entschädigungsleistungen gestellt und nur etwa 11.000 erhalten Leistungen“.

Auch Martin Kölling, Abteilungsleiter Opferentschädigung (siehe Interview) beim Versorgungsamt Köln weiß von der geringen Bekanntheit des OEG. Freilich hat er eine andere Erklärung als der Sprecher des Opfervereins: „Bei den 200.000 Gewaltopfern handelt es sich doch oft um Bagatellfälle“, sagt Kölling, „Schlägereien im Karneval oder beim Fußball, passieren häufig unter Alkoholeinfluss“. Die eingeschlagene Nase werde dann schnell im Krankenhaus behandelt und von den Krankenkassen bezahlt. Stellen die Verbrechensopfer fest, dass sie nach dem Gesetz meist nur die Behandlung ersetzt bekommen aber keine Rente, lasse ihr Interesse nach. Dazu komme, so Kölling, vor allem eine enorm hohe Dunkelziffer bei Sexualdelikten: „Viele Frauen zeigen sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen nicht an und stellen dann natürlich auch keinen Antrag auf Entschädigung.“

Auch wenn kaum jemand das Gesetz kenne, die Opferinteressen sieht Kölling gerade in NRW ausreichend vertreten. So werde hier das vor zehn Jahren initiierte „Kölner Opferhilfe-Modell“ (KOM) praktiziert. Versorgungsämter und Polizei arbeiteten mit dem Deutschen Institut für Psychotraumatologie und dem Institut für Psychologie an der Universität Köln zusammen. In Köln, Krefeld, Wermelskirchen, Much und Aachen würden Beratungsstellen Gewalt- und Unfallopfern unbürokratisch dabei helfen, mit den psychotraumatischen Auswirkungen einer Tat fertig zu werden.