Material für die Zukunft

Zurückhaltend und nah an den Musikern führt Romuald Karmakars „Between the Devil and the Wide Blue Sea“ in die elektronische Musik zwischen Trash, Posen und dem Traum absoluter Kunst ein

VON CLAUS LÖSER

Bevor die beiden Sirenen von Cobra Killer mit dem eigentlichen Konzert beginnen, kippen sie sich erst mal eine Flasche Wein über den Kopf. Dann heben sie zu ihrem lasziven Post-Punk-Neo-Burlesque-Singsang an, kreischen „Mund auf, Augen zu“, legen dazu sogar ein Stagediving hin. Marco Haas von T.Raumschmiere taumelt nach der Berührung mit ihnen immer wieder gegen die Bespannung des wie eine Gummizelle wirkenden Bühnenraums – tätowiert ist sein Körper, seine zu weite Hose gibt tiefe Einblicke frei. Der Sänger des Duos Fixmer/McCarthy posiert in schwarzer Kleidung mit Sonnenbrille vor seinem vornehmlich ebenfalls schwarz gekleideten Publikum, und er straft und beglückt es zugleich mit zu peitschenden Sounds hervorgestoßenen Zeilen wie „For me you are nothing!“.

Kein Zweifel: Provozierendes, geschmackloses Gebaren und das unbekümmerte Plündern der Popgeschichte gehören zum Selbstdarstellungsfundus der elektronischen Musikszene wie die Luftgitarren zum Heavy Metal. Doch diese ausgestellte Nähe zum Trash täuscht ein wenig über den genuinen künstlerischen Wert dieser Musik hinweg. Gerade aus Deutschland kommen einige der international wichtigsten Beiträge der elektronischen Bewegung, und Berlin gilt längst als ihre Welthauptstadt. Nur hat das hier noch niemand bemerkt, zumindest nicht in den Verwaltungsetagen der Hochkultur.

Als eigenständige Kunstform ist die aktuelle elektronische Musik im Film bislang kaum wahrgenommen, höchstens werden ihre Produktionen hin und wieder zum modischen Aufpeppen von Tonspuren benutzt. In mindestens zwanzig Jahren werden Musikhistoriker vermutlich das Sedimentgestein der jüngsten Geschichte untersuchen und feststellen, dass von der innovativsten Bewegung des beginnenden 21. Jahrhunderts nur wenige unmittelbare visuelle Spuren überliefert worden sind. Dann wird Karmakars Dokumentation „Between the Devil and the Wide Blue Sea“ als eine der wenigen Quellen aus erster Hand hohe Wertschätzung erfahren.

Der Filmemacher setzt in seinem jüngsten Kapitel subkultureller Vivisektionen (nach „Der Totmacher“, „Frankfurter Kreuz“, „Manila“) wieder völlig anders an, als es von den Meinungsbildnern der Unterhaltungsindustrie vorgegeben wird. Bei ihm suggerieren keine multiperspektivischen Kamerafahrten oder verhackstückte Schnittfolgen ein Höchstmaß an Virilität und Jugendlichkeit. Karmakar begibt sich mit seiner Kamera mitten hinein in die Schauplätze der Szene, sucht die körperliche Nähe der Musiker, hält sich gleichzeitig formal stark zurück. Er dokumentiert die Arbeit von Kollegen, begegnet ihnen deshalb auf Augenhöhe.

Dieser künstlerische Respekt schlägt sich am sinnfälligsten in der vollständigen Aufzeichnung der ausgewählten Stücke nieder. Geschwenkt oder gezoomt wird nur, wenn dies der möglichst vollständigen Erfassung des Bühnengeschehens dient. Mit diesem Verfahren des eigenen Zurücknehmens erinnert der Film noch am ehesten an den heute vergessenen Matthias Weiss, der 1968 eine fast fünfzigminütige Session von Ten Years After statuarisch auf 16 Millimeter abfilmte (an der Kamera: Wim Wenders) und damit einen einzigartigen, weil puren Moment der Pophistorie fixierte.

Es ist unmöglich, die Heterogenität der Elektroszene in 90 Minuten auch nur annähernd auf repräsentative Weise zusammenzufassen. So unterschiedlich die Schauplätze, Kostümierungen und Besetzungen ausfallen, so verschieden gestalten sich die musikalischen Spielarten. Das Spektrum reicht von der Fortsetzung des Punks mit anderen Mitteln, wie von XLover praktiziert, über die varietéartigen Nummern von Captain Comatose bis hin zu den komplexen, schwebenden Trancestrukturen von Tarwater. Karmakars Verdienst besteht im erstmaligen Aufriss einer äußerst vielgestaltigen und vitalen Szene. Er erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch wirft er sich zum Missionar oder Didaktiker auf. Deshalb braucht er auch keine Kommentare und Interviews.

En passant wird deutlich, dass sich die von ihm dokumentierte subkulturelle Bewegung in eine lange Tradition fügt, die ihre Wurzeln in Deutschland weiß. Künstler wie Alter Ego, Rechenzentrum und andere knüpfen direkt an die zuerst von Can und Kraftwerk gelegten, später von DAF und Der Plan fortgeführten Fährten an. In Verbindung mit Einflüssen aus Noise, Industrial, Ambient und zeitgenössischer E-Musik finden sie zu einer völlig eigenständigen Qualität.

In diesen Kontext fügt sich auch der offensiv praktizierte synästhetische Ansatz, speziell die Einbeziehung von bewegten Bildern in das künstlerische Gesamtkonzept. So greifen auch die bei den Konzerten projizierten Visuals in ihren gelungenen Varianten nichts Geringeres auf als das, was von den Pionieren des „absoluten Films“ um Walter Ruttmann, Oskar Fischinger oder Viking Eggeling in den 1920er-Jahren als Utopie angestrebt wurde: die völlige Verschmelzung verschiedener Inputs, um „ohne Einschränkung jede mögliche Beziehung zwischen Formen“ (Hans Richter) herzustellen.

„Between the Devil and the Wide Blue Sea“. Deutschland 2005, 90 Min. Regie und Kamera: Romuald Karmakar. Mit Alter Ego, Captain Comatose, Cobra Killer, Fixmer/McCarthy, Lotterboys, Tarwater, T.Raumschmiere, Rechenzentrum, XLover. Ab 18. Mai im Kino Central, 22.15 Uhr