Kein Geld, um Hefte für die Kinder zu kaufen

Rund 800.000 Roma leben in Bulgarien. Die Regierung hält Ihre Integration für schwierig, weil die Bevölkerung dagegen sei

SOFIA taz ■ Langsam kriecht der Wagen über den vom Regen aufgeweichten Sandweg. Immer wieder muss der Fahrer riesigen Schlaglöchern ausweichen, in denen knietief das Wasser steht. In einem Graben liegen Abfälle, gegenüber, vor zusammengezimmerten Behausungen, sind Wäscheleinen gespannt. Neben einer aus Ziegelsteinen gemauerten Feuerstelle spielen Kinder, auf dem Nachbargrundstück zupft ein Pferd an ein paar Grashalmen.

Hristo Botew, ein Außenbezirk von Sofia, rund 15 Autominuten vom Zentrum entfernt. Hier leben mittlerweile rund 7.500 Menschen, fast alle sind Roma. Nur wenige Minuten nachdem der Wagen gestoppt hat, sind die Besucher schon von Dutzenden Neugieriger umringt. Jeder möchte seine Geschichte erzählen. „Meine Tochter ist taubstumm, aber sie wird in keiner Spezialschule aufgenommen“, erzählt eine Frau. Ein junger Mann erregt sich: „Neulich hat sich meine Frau für eine Stelle beworben. Als sie ankam, sagte man ihr, der Job sei bereits vergeben. Als wir eine halbe Stunde später anriefen, hieß es, die Stelle sei noch zu haben.“

Ein paar Straßen weiter steht eine Frau vor ihrem Haus. Auf dem Arm hält sie einen Säugling, zu ihren Füßen spielen zwei kleine Kinder. Die älteste Tochter guckt etwas verschämt zu Boden. Auf die Frage, warum sie nicht in der Schule sei, antwortet die Mutter: „Ich habe kein Geld, um ihr Hefte zu kaufen.“ Zlatko Mladenov, Vizepräsident der Internationalen Roma-Union und selbst wohnhaft in Hristo Botew, weist mit der Hand eine Straße entlang. „Hier gibt es keine Kanalisation, und 3.000 Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser“, sagt er. Krankheiten wie Tuberkulose seien weit verbreitet. Dennoch wachse die Siedlung ständig, denn immer mehr Roma verließen die Provinz, um sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Sofia anzusiedeln.

Im Oktober vergangenen Jahres ließen die Behörden 25 Häuser zerstören, um die Bewohner zu vertreiben. Dabei gilt Hristo Botew noch als Vorzeigesiedlung der Roma. 750 Kinder besuchen hier eine Schule, wo sie zudem auch noch in praktischen Berufen ausgebildet werden.

Landesweit jedoch sieht das Bild düsterer aus. Unter den rund 800.000 Roma – das entspricht rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung – liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 90 Prozent. 65 bis 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze, 80 Prozent haben keine Ausbildung. Wer eine Arbeit hat, verdient sein Geld in der Regel als Straßenreiniger, Müllsammler oder schwarz in der Bauwirtschaft.

Nicht zuletzt auf Druck der EU macht die bulgarische Regierung Anstalten, sich der Probleme der Roma anzunehmen. 2005 gehörte Sofia mit sieben anderen Staaten zu den Unterzeichnern der „Dekade der Roma-Integration“, eines Programms, das zu großen Teilen von der Weltbank und dem Open Society Institute finanziert wird. „Bisher hat diese Initiative noch kaum Resultate gebracht“, sagt Krassimir Kanev vom bulgarischen Helsinki-Komitee. Viele Roma-Kinder würden in bulgarischen Schulen abgelehnt und müssten dann in Sonderschulen auf niedrigem Niveau und getrennt von den bulgarischen Kindern lernen. Nach wie vor sei die Diskriminierung der Roma im Alltag an der Tagesordnung. 50 Prozent der Bulgaren hielten die Roma für kriminell und empfänden sie als Last für die Gesellschaft. Die bulgarische Regierung sei bislang weitestgehend passiv, von einer Erfüllung der Kriterien des Europarats und der EU im Bereich Minderheitenschutz könne keine Rede sein. „Ich bin skeptisch, was die weitere Entwicklung angeht“, sagt Kanev. „Die Regierung glaubt, dass es politisch unmöglich ist, Integrationsmaßnahmen für die Roma durchzusetzen, weil die Gesellschaft dagegen ist“, sagt er.

Kanevs Skeptizismus könnte berechtigt sein, vor allem dann, wenn Sofias Bürgermeister Boiko Borrisov weiter an Popularität zulegt. „Ich kann die Roma nicht davon abhalten, nach Sofia zu kommen. Dort siedeln sie sich an und beginnen zu stehlen“, sagt er. „Wir integrieren sie, bieten ihnen Jobs an, aber sie wollen nicht arbeiten. Würden Sie sich das gefallen lassen?“

BARBARA OERTEL