Ärzte werben um Verständnis

Seit neun Wochen streiken die Ärzte am Uniklinikum Tübingen. Ihr Frust steigt. Die Patienten dagegen bleiben gelassen – bis auf die in der Psychiatrie

Die Kranken, die auf eine Operation warten, sind nicht organisiert. So fällt ihr Protest leise aus„Der Frust schlägt bei uns in Trotz und Jetzt-erst-recht um“, sagt ein Sprecher der Assistenzärzte

AUS TÜBINGEN MARTIN BERNKLAU

Ein ordentlicher Streik: Peinlichst genau achten die Ärzte in der Uni-Klinikstadt Tübingen darauf, das die Notversorgung der Patienten gesichert ist. Eine eigens eingerichtete Kommission entscheidet darüber, welche Eingriffe als dringlich gelten und welche vertagt werden können. Dies soll verhindern, dass bereits einbestellte Patienten unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt werden müssen.

„Sauer bin ich nicht“, sagt der 62-Jährige. Er kam zu einer komplizierten Kombi-Operation von Ulm nach Tübingen, an der neben der Herz-Thorax-Chirurgie auch die Urologen beteiligt waren. Zwei Tage zusätzlicher Wartezeit musste er hinnehmen. Nicht nur wegen des erfolgreichen Eingriffs lobt er seine Ärzte: „Ich habe bisher auch niemand anderen getroffen, der sauer wäre. Die machen das schon richtig hier.“

Die Kranken, die auf eine Operation warten, sind nicht organisiert. Entsprechend lau und leise fällt auch ihr Protest aus. Noch traut sich niemand zu rebellieren. Ein paar lokale Leserbriefe, kaum mehr. Nur die Patienten der Psychiatrie verfassten einen offenen Protestbrief gegen die spürbar reduzierte Betreuung. Und selbst dabei wurde nicht auf den forcierten Ausstand der Klinikärzte eingeprügelt, sondern ein rasches Verhandlungsergebnis gefordert.

Sogar bei den Bilanz-hörigen Spitzen im Klinik-Betrieb richtet sich der Zorn eher gegen die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) und ihren Buhmann Hartmut Möllring (CDU), den niedersächsischen Finanzminister, als gegen die Streikärzte. Zu Wochenbeginn reisten die vier Klinikchefs der baden-württembergischen Universitäten nach Stuttgart, um mit der Landesregierung einen möglichen Ausstieg aus dem Tarifkartell auszuloten. Doch aus einem schwäbischen Sonderweg wurde zunächst nichts. Finanzminister Gerhard Stratthaus (CDU) will sein Land einstweilen in der föderalen Tariffront lassen. Frustriert kehrte der Ärztliche Direktor Michael Bamberg nach Tübingen zurück. Schon vor Tagen verkündete er, er sei „maßlos enttäuscht und stinksauer“ über die „Verzögerungstaktik“ der arbeitgebenden Länder.

Sein Klinikum kämpft in Konkurrenzzeiten nicht nur um das Vertrauen der Patienten. Auf rund drei Millionen Euro beziffert der Kaufmännische Direktor Rüdiger Strehl die bisher verloren gegangenen Einnahmen und errechnet bei nun verschärften Streiks mit einem reinen Notdienst wöchentliche Ausfälle von bis zu zwei Millionen Euro. Zwar prangert auch er pflichtschuldig „plakative“ Forderungen der Ärztegewerkschaft Marburger Bund an und warnt vor „Engpässen bei der Versorgung Schwerstkranker“. Doch auch sein Missmut richtet sich zunehmend gegen die Möllring-Truppe: „Innerhalb der TdL potenzieren sich inzwischen die Fehler“, erklärte er in der Lokalpresse.

Die streikenden Klinikärzte fahren indessen unverdrossen fort mit ihren Aktionen. Von den 800 angestellten Medizinern in Tübingen machen die meisten irgendwie mit. Bei der Urabstimmung waren 97 Prozent für den Streik, fast einstimmig votierten vor ein paar Tagen 300 Teilnehmer einer Vollversammlung für eine Verschärfung. Zwar hat die Trillerpfeife als traditionelles Kampfmittel noch nicht ganz ausgedient. Doch die Klinikärzte setzen auch weiterhin auf ihre Fantasie. Für den heutigen Mittwochnachmittag haben sie eine Protest-Stocherkahnfahrt auf dem Neckar unter dem Titel angekündigt: „Die TdL stochert im Trüben.“

Schon zu Beginn des Streiks vor neun Wochen stürzten sich Assistenzärzte vor der ehrwürdigen Kulisse des Hölderlinturms publikumswirksam in die noch eisigen Wasser der Flusses: „Wir gehen für Sie baden.“ Es gab einen 24-Stunden-Staffellauf im Alten Botanischen Garten. Motto: „Wir laufen uns für Sie die Hacken ab.“ Schließlich setzten die Ärzte mit Fackeln auf dem Österberg, dem Tübinger Haushügel, ein weithin sichtbares Feuerzeichen „Streik“.

All dies hat den Ärzten viel Verständnis eingebracht. Dass sich an den unzumutbaren Arbeitsbedingungen etwas zum Besseren ändern muss, sehen auch die viele Patienten ein . „Die haben schon irgendwie beide Recht“, meint ein Rentner, der zum vereinbarten Wundversorgungstermin in der Chirurgie angereist ist. „Der Staat hat kein Geld, und die Ärzte kriegen zu wenig Geld.“

Dass die karge Bezahlung unangemessen und die kostenlosen Überstunden ein Skandal sind, ist inzwischen so etwas wie öffentlicher Konsens in der Unistadt. Wie lange der Bonus allerdings noch vorhalten wird, ist ungewiss.

Martin Weinmann, Sprecher der Assistenzärzte am Universitätsklinikum, ist gleichwohl noch guter Dinge: „Die Patienten haben ganz überwiegend Verständnis. Aber sie leiden auch zunehmend unter dem Streik. Dass so eine OP-Verschiebung ärgerlich ist, sehen wir auch“, räumt der 40-jährige Strahlenmediziner aus der Onkologie ein.

Auch bei den Streikenden wächst der Frust. „Das schlägt allerdings bei uns in Trotz und Jetzt-erst-recht um“, beschreibt der Assistenten-Sprecher die Stimmung. „Die Leute wissen, dass sie keine andere Chance haben, als das jetzt durchzuziehen.“ Von Gereiztheit ist freilich kaum etwas zu spüren auf den Klinikfluren. Eher entspannt wirkt die Atmosphäre, zumal der gewohnte alltägliche Betrieb merklich reduziert ist.

Weil der Marburger Bund kein Streikgeld zahlen kann, haben die Aktivisten ein Streikkonto eingerichtet. Auf dem laufen Spenden aus der Kollegenschaft ein. Vor allem die Solidarität der Ärzte von der benachbarten Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, so Weinmann, sei „ausgesprochen erfreulich“. Sogar aus Stuttgart kamen Finanzspritzen. Aber auch die beamteten Oberärzte und sogar einige Uni-Ordinarien entrichten zum Teil großzügig ihren Obulus.

Die Abteilungen regeln die Streik-Zuschüsse intern. Für mehr als ein paar Härtefälle reichten „die paar tausend Euro natürlich nicht“, so Weinmann. Die symbolische Unterstützung für den Ausstand werde zwar dankbar angenommen. Die Gehaltsabrechnung für den Mai komme allerdings noch. „Und da kann das dicke Ende für manche besonders aktive Kollegen schon ein Bisschen happig werden.“