„Schwänzer benötigen unsere Toleranz“

Notorische Schulverweigerer und deren Eltern können sich an einer Essener Klinik Hilfe holen. Der Chef der Jugendpsychiatrie, Johannes Hebebrand, will die häufig psychischen Ursachen für das Fernbleiben vom Unterricht heraus finden. Mit Sanktionen allein sei keine Besserung zu erreichen

INTERVIEW LUTZ DEBUS

taz: Es gibt ja das Buch „Die Krankheitserfinder“. Haben Sie Schulverweigerung als neue Krankheit erfunden?

Johannes Hebebrand: Die Krankheit, die wir behandeln, ist ja nicht neu. Ich komme aus Marburg, einer vergleichsweise kleinen Stadt, und bin erst seit zwei Jahren in Essen, und sehe, dass hier bei jedem dritten, vierten Kind, das in unserer Klinik tagesklinisch oder stationär behandelt wird, Schulverweigerung eine Rolle spielt. Manche sind seit über einem Jahr nicht mehr zur Schule gegangen. Da frag ich mich, warum nicht früher jemand darüber nachgedacht hat, ob dieses Kind psychisch krank ist. Ich habe die Hoffnung, dass frühe Behandlung frühe Hilfe für die Betroffenen bedeutet; letztlich kann so die Zeit, die der Schüler dem Unterricht fernbleibt, verkürzt werden.

Wie viele Schulverweigerer gibt es?

Wir rechnen damit, dass fünf bis acht Prozent aller Schüler die Schule häufig oder dauerhaft nicht besuchen. Es gibt aber keine einheitliche Definition der Schulverweigerung.

Wie alt sind sie?

Je älter die Schüler, um so häufiger schwänzen sie den Schulbesuch. Am häufigsten bleiben Hauptschüler dem Unterricht fern.

Grundschüler schwänzen auch schon?

Sicher. Es gibt allerdings verschiedene Formen der Schulverweigerung. In der 1. Klasse beginnt das Problem der Kinder mit Trennungsängsten. Die trennen sich schwer von ihren Eltern, besonders von ihren Müttern.

Welche anderen Gründe hat Schulverweigerung?

Kinder kommen nicht in die Schule, weil die Leistungen nicht gut sind oder weil sie Konflikte mit Klassenkameraden oder mit Lehrern haben. Es gibt aber auch Schüler, die eine Störung des Sozialverhaltens aufweisen, delinquent sind. Manche Kinder und Jugendliche weisen eine definierte psychiatrische Störung auf.

Was machen Sie in solchen Fällen?

Wir versuchen in der Stadt Essen, möglichst früh eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose zu stellen. Wir wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass etwa 50 Prozent aller Schulverweigerer eine psychiatrische Störung haben. So kann zeitnah eine Therapie beginnen.

Wie unterscheiden Sie kranke von gesunden Schulverweigerern?

Da gibt es klare Unterscheidungen. Wir haben definierte psychiatrische Störungen, die entsprechend diagnostiziert werden können. Es gibt z.B. den international angewandten Diagnoseschlüssel ICD 10.

Welche Krankheiten führen zur Schulverweigerung?

Angststörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Suchterkrankungen. Bei den Suchterkrankungen ist es hauptsächlich die Cannabisabhängigkeit, die zur Schulverweigerung führt. Das fängt bei manchen Schülern schon mit 12, 13 Jahren an. Schizophrenie ist eher selten. Etwa ein Prozent der Bevölkerung hat eine Schizophrenie. Von denen haben nur zehn Prozent vor dem 18. Lebensjahr eine manifeste Erkrankung. Das ist also nicht sehr häufig.

Welche Rolle spielt die Familie?

Es können auch Erkrankungen in der Familie zur Schulverweigerung führen. Eine schwere somatische oder auch psychische Erkrankung eines Elternteils kann Kinder daran hindern, zur Schule zu gehen. Aber auch Vernachlässigung von Seiten der Bezugspersonen spielt eine Rolle.

Wie sehen die jeweiligen Therapien aus?

Das ist ganz abhängig von der Grundstörung.

Es gibt nicht die Pille, die zur Schule führt?

Nein. Im Einzelfall behandeln wir natürlich auch medikamentös. Bei einer schweren Depression sind die Kinder oder Jugendlichen unter Umständen auch suizidal, da muss man was tun. Auch bei überaktiven Kindern empfehlen wir häufig Medikamente. Aber man muss sehr genau hingucken.

Welche Ursachen hat das massive Auftreten von Schulverweigerung? Zu viel Fernsehen, Computer, Gameboy?

Woran das liegt, weiß ich nicht. Es ist ein internationales Problem, nicht nur in Deutschland. Natürlich zeigt die PISA-Studie, dass es länderspezifische Unterschiede gibt. Es geht ja nicht nur darum, die Schüler zu erreichen, die zur Schule gehen, sondern auch die zu motivieren, die nicht zur Schule kommen. Wahrscheinlich haben die später die noch größeren Probleme, denn sie sind mit Sicherheit später die arbeitslosen Jugendlichen.

Wird Ihre Initiative von allen Beteiligten positiv aufgenommen?

Schulverweigerung wird unterschiedlich wahrgenommen. Manche Lehrer und Schulpsychologen sagen, dass es kein Problem sei. Das hängt auch vom Schultyp ab. Wenn ich mit einem Gymnasiallehrer spreche, hat er wahrscheinlich wenig Berührungspunkte, andere mehr. Aber es hängt auch davon ab, ob eine Schule dieses Problem an die große Glocke hängen möchte.

Es gibt auch Positionen, die fordern, dass Schulverweigerer bestraft werden müssen. Was halten Sie davon?

Das ist Quatsch. Man muss die Ursachen kennen. Sowohl ein Kind mit Trennungsangst als auch ein schwer depressives Kind oder ein drogenabhängiger Jugendlicher wird mit „Null Toleranz“ nicht weiterkommen. Auch wenn Sie einen Süchtigen in die Schule hineinprügeln würden, hinge er dort nur ab. Damit ist nichts gewonnen.

Ist Schulverweigerung nicht eher ein pädagogisches Problem?

Das Problem liegt in einem Grenzbereich. In vielen Fällen wird es ein pädagogisches Problem sein. Aber psychiatrische Störungen sind kein pädagogisches Problem mehr. Schulverweigerung verlangt eine saubere Diagnostik und dann gegebenenfalls eine psychiatrische Therapie.