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: HELMUT HÖGE über Nachtigallen

„Ein neuer Frühling, in dem tausend schöne Pläne blühen …“ (Franz Michael Felder)

Jetzt werden wieder Nachtigallen-Standort-Adressen ausgetauscht. In diesem Jahr tummeln sich besonders viele dieser Vögel im städtischen Grün. Vielleicht fangen etliche deswegen schon mittags an zu singen? Einige hört man sogar im Bus, wenn man zum Beispiel mit dem M 29 am Landwehrkanal und an Parkanlagen vorbeifährt. Eine sitzt sogar bei einem taz-Kollegen im Baum, direkt vor seinem Balkon.

Im Seminar des Kulturwissenschaftlers Friedrich Kittler hielt der Biologe Cord Riechelmann neulich einen Vortrag über Nachtigallen, genauer gesagt: über die „Entwicklung von Arten aus dem Gesang“, der bei vielen Vögeln das Territorium markiert. Dabei erfuhr ich, dass es jenseits der Oder keine Nachtigallen gibt. Was dort so singe, das seien Spötter. Folglich war also die in Russland so berühmte Nachtigallenschule von Kasan, von der Jewgenia Ginsburg berichtet, dass die Bolschewiki neben allen anderen Schandtaten auch deren Zerstörung auf dem Gewissen hätten, genau genommen ein Spöttergymnasium!

Beider Gesang gilt als der schönste. Er ist nicht angeboren, sondern eine Kunst. Man spricht bei ihnen von Schwesternarten. In Frankfurt (Oder) kommen sie sich bis auf Hörweite nahe. Dort passiert es gelegentlich auch, dass die eine mit der anderen einen Roman anfängt. Er bleibt jedoch fruchtlos: Sie sind von der Art so weit voneinander entfernt, dass kein Nachwuchs daraus entstehen kann.

Dennoch geben die Nachtigallen und Spötter nicht auf. Riechelmann vermutet, dass es irgendwann auch klappen wird, dass sich beide Arten immer weiter annähern, bis sie sich vermehren können. Womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass das ihr Ziel ist – dahinter steckt eher eine List der Natur. Begründet wird das damit, dass die Nachtigall sich immer weiter nach Osten ausbreitet und damit den Territorien der Spötter nahe rückt.

Absurderweise jammert man an den Orten mit den Nachtigallbäumen, zu denen die Liebespaare jetzt allabendlich pilgern, schon seit Wochen, dass die Insekten heuer zu einer wahren Plage zu werden drohen. Dabei sind möglichst viele Insekten die Voraussetzung für viele Vögel in der Stadt. Darüber hinaus passt deren massenhafter Nestbau ganz prima in die derzeit überbordende Regierungs- und Springer- sowie Burda-Presse-Propaganda, die erbarmungslos das Heiraten, Familiegründen und Kinderkriegen preist – und dazu jede diesbezügliche Lebensäußerung von Ami-Stars und BRD-Promis ausführlich featurt. Aber es ist auch hierbei wie mit der Insektenplage: Wovon sich die ganzen Kinder aber als spätere Dauerarbeitslose einmal ernähren sollen – das freilich ist kein Thema.

Zurück zum Clash of Civilisation jenseits der Oder, wo sich neben den Nachtigallen auch immer mehr deutsche Männer mit polnischen Ehefrauen niederlassen – ebenfalls als Bodenbrüter. Sie nennen sich selbstironisch „Mischlinge“ und stellen hier und da schon eine gediegene dörfliche Minderheit. Im Gegensatz zu den Nachtigallen-Spöttern haben sie allerdings auch keine Vermehrungsprobleme (wenn es drauf ankommt).

Seltsamerweise weiß man noch immer nicht so genau, wo genau in Südarabien beziehungsweise im mittleren Afrika die Nachtigallen und Spötter sich den Winter über aufhalten – und was sie da so treiben. Ebenso wenig, warum die frühere Nachtigallen-Hochburg Halle heute wie ausgestorben wirkt, während in Berlin bald an jeder Ecke eine Nachtigall schmettert. Eine Erklärung besagt, dass die zuhörenden Weibchen so kritisch geworden sind, dass die Männchen sich ihren Beifall mehr und mehr von Metropolenmenschen holen. Sie reagieren damit genauso dumpf wie all die Starmusiker und -dirigenten, die auch lieber in Berlin als in Halle auftreten.

Eine andere Erklärung führt das Hallenser Nachtigall-Verstummen auf das von den Westökologen fast gänzlich abgewickelte „Zentrum für Stadtökologie“ zurück: Demnach schmettern die Nachtigallen dort noch immer – nur ihre Erforschung wurde abgeschmettert. Dafür ist jetzt Berlin zum Nachtigallenforschungszentrum aufgerückt: Unter anderem arbeiten Henrike Hultsch und Dietmar Todt an der FU über die „Lautproduktion“ und das „serielle Lernen“ der Nachtigallen. Die sind darin, laut Hultsch, „wahre Meister“ und bewegen sich im Übrigen gleich uns „am Boden hüpfend fort“, wie der Deutsche Naturschutzbund über den „Vogel des Jahres 1995“ vermeldete, der mancherorts schon gezüchtet wird.