Öffnung mit Brechstange

Das Arolsen-Archiv mit 50 Millionen NS-Dokumenten schien Historikern für immer versperrt. Jetzt erhalten sie Zutritt

Die Bundesregierung hatte datenschutzrechtliche Bedenken gegendie Öffnung

VON CHRISTIAN SEMLER

Lange sah es ganz so aus, als bliebe die Datenfestung Arolsen mit ihren 50 Millionen Dokumenten über 17,5 Millionen Verfolgte des Naziregimes für die historische Forschung uneinnehmbar. Jahr für Jahr sperrten sich der von elf Ländern beschickte Ausschuss des Internationalen Suchdienstes (ITS) sowie der Suchdienst selbst, der dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zugeordnet ist, gegen die Öffnung des Archivs in dem nordhessischen Kurort für die Arbeit der Historiker. Dabei war der stets vorgebrachte Haupteinwand, der Suchdienst habe all seine Kraft seinem humanitären Auftrag zu widmen, nie stichhaltig gewesen. Denn der letzte dieser Aufträge, die Bereitstellung von Daten für die Beschäftigungsnachweise der Zwangsarbeiter des Deutschen Reiches im Rahmen von Entschädigungsverfahren, wäre mit einer gleichzeitigen Erschließung der Bestände für die Zeitgeschichtsforschung vereinbar gewesen – alles eine Frage der eingesetzten Mittel.

Jetzt ging alles sehr schnell, vor allem nach der Brechstangen-Attacke, die zu Anfang dieses Jahres von Seiten des Holocaust Memorial Museums in Washington gegen die verschleppte Öffnung des Arolsen-Archivs losgetreten worden war. Vom „Verstecken des Archivs“ war die Rede gewesen und davon, dass die Verhinderung historischer Arbeit „eine Form der Holocaust-Leugnung“ sei. Angesichts des Zugangs, der den Naziopfern und deren Nachkommen zu ihren Daten immer gewährt worden war, eine abstruse Unterstellung, die freilich ihre Wirkung auf die deutsche Regierung nicht verfehlte.

Bis jetzt hatte die Bundesregierung vor allem datenschutzrechtliche Bedenken gegen die Archivöffnung geltend gemacht. Denn in den Dokumenten finden sich Hinweise der Gestapo sowie anderer nationalsozialistischer Amtsstellen zu Krankheiten, zur sexuellen Orientierung, zur Spitzeltätigkeit, zu angeblichen strafrechtlichen Verfehlungen der Opfer. Diese Bedenken wären leicht auszuräumen gewesen, wenn die geöffneten Aktenbestände in Deutschland verblieben und Schwärzungen nach dem deutschen Persönlichkeitsrecht vorgenommen worden wären. So wird in deutschen Archiven regelmäßig verfahren. Der Verbleib des geöffneten Arolsen-Archivs in Deutschland hätte auch der Konzentration historischer Materialien auf Superinstitutionen wie das Washingtoner Holocaust Memorial Museum entgegengewirkt und der Kooperation deutscher und internationaler Forscher „vor Ort“, also an den Orten der NS-Verbrechen, gut getan.

Die jetzt getroffene Regelung sieht die Übermittlung der kompletten Datensätze an die Forschungseinrichtungen interessierter Länder vor, einschließlich der USA, wo der Datenschutz weit lockerer gehandhabt wird als in Deutschland. Die Vereinbarung spricht von einem „kontrollierten Zugang“, der „in voller Beachtung eines angemessenen Schutzes der persönlichen Daten“ zu erfolgen habe. Aus dem Abkommen geht nicht hervor, wem jeweils die Wahrung des Datenschutzes obliegt. Was „angemessen“ heißt, ist eine Ermessensfrage. Wenigstens konnte der unsinnige Vorschlag von US-amerikanischen Historikern und Journalisten abgewehrt werden, den gesamten Datensatz ins Internet zu stellen.

Unabhängig von dieser Problematik hat der Zeithistoriker Wolfgang Mommsen den Vorschlag gemacht, den digitalisierten Bestand von Arolsen dem Bundesarchiv zu übergeben. Eine vernünftige Idee, denn die Funktion eines Sucharchivs folgt anderen Erfordernissen als die eines historischen Archivs, schon deshalb, weil die Bestände von Arolsen aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst und einer reinen Personenkartei zugeordnet wurden. Mommsens Initiative böte zudem den Vorteil, die Archivbestände der Obhut ausgebildeter Historiker und Archivare anzuvertrauen, während die jetzigen ITS-Sachbearbeiter als „Kaufleute für Bürokommunikation“ qualifiziert sind. Hier sollte schnell Klarheit geschaffen werden, um den Selbstbehauptungswillen eingespielter Apparate wie dem des Suchdiensts nicht allzu viel Raum zu geben.

Die ungeheure Masse von Daten, produziert von einem aktenwütigen Regime, wird der historischen Forschung sicher neue Impulse verleihen, ohne die bislang gewonnenen Erkenntnisse umzustürzen. Vor allem wird die Orientierung auf das Opferschicksal an Bedeutung gewinnen. Insofern hat die Öffnung des Archivs für die Historiker nicht nur wissenschaftliche, sondern auch moralische Bedeutung.