Kleine Strolche im Pflegeheim

PILOTPROJEKT Die Kinder einer Hamburger Kita singen, backen und malen regelmäßig mit den Senioren des benachbarten Heims. Von der Begegnung profitieren beide Seiten

„Letztens hat ein Kind festgestellt, dass es genau so wenig Zähne im Mund hat wie eine der Seniorinnen“

Gitali Rui, Kitaleiterin

VON ANNE PASSOW

Die alte Dame lächelt, als Julie ihre Hand nimmt und legt ihren Arm um die Schulter der Fünfjährigen. „Ich selbst bin nie Mutter geworden. Nach dem Krieg gab es kaum Männer“, erzählt die Seniorin leise. Dann singt sie das Lied mit, das die anderen schon angefangen haben: „Wenn alle Brünnlein fließen“. Die Volksweise kennen die Senioren, die an diesem Nachmittag im Aufenthaltsraum der Tagespflege Barmbek in der Steilshooper Straße sitzen, deutlich besser als die Kinder, die trotzdem fleißig mitklatschen. Beim Lied „Und die Katze tanzt allein“ sind die Vier- bis Sechsjährigen dagegen klar im Vorteil.

Jeden Mittwoch treffen sich die Kinder der Hamburger Kita „Kleine Strolche“ mit den Senioren der Tagespflegeeinrichtung „Barmbek Alter und Pflege“, um gemeinsam zu singen. Auch zum Backen, Basteln, Grillen oder zum Geschichten Erzählen kommen die ganz Jungen mit den ganz Alten hier zusammen – ein Trend: Bundesweit gibt es immer neue generationsübergreifende Projekte. 450 Mehrgenerationenhäuser des Bundesfamilienministeriums, 12 davon in und um Hamburg, fördern das Miteinander. Beim Hamburger Singprojekt „Canto elementar“ fungieren Alte als „Singpaten“, die in die Kitas gehen. Umgekehrt werden im Altenheim „Pflegen und Wohnen Farmsen“ Kitakinder betreut. Und Kindergärten und Vorschulen organisieren regelmäßig Besuche in Seniorenheimen.

Dass diese Projekte so beliebt sind, liege daran, dass beide Seiten profitierten, sagt Gitali Rui (43), Leiterin der Barmbeker Kita „Kleine Strolche“. Für viele Kinder seien die älteren Menschen eine Art Oma oder Opa, da die echten Großeltern weit weg oder gar nicht mehr lebten.

„Die Kinder begegnen den Senioren mit unheimlich viel Respekt und sind ganz fasziniert, wenn sie ihnen Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen“, sagt Rui. Die fünfjährige Lilly zum Beispiel fand es unheimlich spannend, als eine ältere Dame den Kindern kürzlich beschrieb, wie man früher ganz ohne Strom gelebt hat. „Und eine Geschichte von Gänsen und vom Fuchs hat sie auch erzählt“, berichtet sie.

Viele Menschen in der Tagespflegeeinrichtung sind demenzkrank. Für sie sei die Begegnung mit den Kindern oft ein Erlebnis, das sie öffne, berichtet Pflegedienstleiterin Sybille Klevenow (46): „Unsere Senioren blühen auf. Ich sehe fast nur strahlende Gesichter, wenn die Kinder da sind.“

Marlene Wachtel strahlt tatsächlich. In der einen Hand hält sie eine Trommel, um die Lieder rhythmisch zu begleiten, mit der anderen winkt sie einem Mädchen. „Die ist besonders süß mit ihren Zöpfen“, sagt die 74-Jährige und erzählt, dass sie selbst einen Sohn großgezogen hat. Auch Meta Weber (94) hatte ihr ganzes Leben lang mit Kindern zu tun. „Ich war Hebamme und bin gerne mit Kindern zusammen.“

Die Idee, sich gegenseitig zu besuchen, kam Pflegedienstleiterin Klevenow und Kitaleiterin Rui vor knapp drei Jahren. Schließlich liegen die Kita und die Tagespflegeeinrichtung direkt nebeneinander. Aus dem ersten Beschnuppern mit Staffeleien und Farben, bei denen die Jungen mit den Alten malten, wurden regelmäßige Treffen. „Unser Singen am Mittwoch ist ein fester Termin. Der ist inzwischen so beliebt, dass am Mittwoch die meisten Senioren zu uns kommen, weil sie unbedingt dabei sein möchten“, berichtet Sybille Klevenow.

Dabei könnten die Generationen verschiedener nicht sein: Auf der einen Seite die Menschen, die teils noch den Krieg, Verzicht und Wiederaufbau miterlebt haben. Auf der anderen Seite die Kinder, die in eine digitalisierte und vernetzte Wohlstandswelt hineingeboren werden, in der alles möglich scheint. Die Studie „Chatroom Familie: Die Brücke zwischen den Generationen“ fand Anfang dieses Jahres heraus, dass die Generationen unter sich bleiben und sich hauptsächlich mit Gleichaltrigen austauschen wollen. Doch stimmt das wirklich?

Wenn man nichts tut, vielleicht. Gitali Rui und Sybille Klevenow haben jedoch erlebt, dass man die verschiedenen Alter nur zusammenbringen muss, damit Interesse entsteht – und manchmal sogar so etwas wie Freundschaft. „Es gibt schon Kinder, die sich besonders auf bestimmte Senioren freuen und umgekehrt“, berichtet Rui. Und ganz schnell werden dabei dann auch Gemeinsamkeiten entdeckt. Rui: „Letztens hat ein Kind festgestellt, dass es genau so wenig Zähne im Mund hat wie eine der Seniorinnen.“