So weit die Füße tragen


AUS WEISWEILER HENK RAIJER

Jede zermanschte Schnecke schmerzt. Immer wenn eine von Marcels Wanderschuhen erwischt wird, ermahnt ihn Nora, doch „aufzupassen, wohin du trittst“. Da kämen sie bei den tausenden von Schnecken am Wegesrand heute wohl nicht mehr ans Ziel, kontert Marcel, während er seine Wandergefährtin lakonisch darauf hinweist, dass von ihnen beiden doch eigentlich er der „Öko“ sei. Nora (19) und Marcel (20) durchqueren gerade Eschweiler, die „Wiege des rheinischen Bergbaus“. Abseits der alten Grubenanlagen und Zinkhütten bahnen sie sich einen Weg durch das satte Grün am Napoleonshügel bis zum Ufer der Inde. Deren Lauf wollen die beiden Wanderer heute folgen, bis zum Kraftwerk Weisweiler, dem ersten markanten Punkt auf ihrer Pilgertour durch das „Land der Kontraste“.

Ein 400 Kilometer langer Fußweg führt Nora Anschütz aus Monheim und Marcel Severith aus Mülheim/Ruhr derzeit quer durch Nordrhein-Westfalen – immer auf der Suche nach den Kontrasten ihres Bundeslandes. Ohne viel Geld, mit Rucksack und Zelt und in der Hoffnung auf die Gastfreundschaft der Menschen entlang des Weges wandern sie bei Wind und Wetter von Aachen nach Soest, wo sie um den 1. Juni herum ankommen wollen. Die Tour ist die Auftaktaktion für den Kreativwettbewerb „Land der Kontraste NRW“ der Jugendorganisation im Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) Nordrhein-Westfalen. Hierbei sind 15- bis 25Jährige aufgefordert, sich mit den umweltpolitischen, sozialen oder landschaftlichen Kontrasten in ihrem Bundesland auseinander zu setzen. So können sich Jugendliche in den Sparten Kurzfilm, Musik, Foto, Text oder Theater mit den Gegensatzpaaren Plattenbau-Ökodorf, Industrieanlagen-Nationalpark oder etwa Lagerfeuer versus Szeneparty beschäftigen.

Nora betrachtet schon Marcel als Kontrastprogramm. „Für mich ist es das erste Mal“, sagt die blonde Abiturientin mit dem Pferdeschwanz, die sich an ihre 13 Kilo auf dem Rücken noch gewöhnen muss. „Im Gegensatz zu mir hat Marcel reichlich Trekkingerfahrung.“ Außerdem sei er in der BUNDjugend NRW aktiv, „und das bin ich bisher nicht“, sagt Nora, die froh ist, dass ihr Wandergeselle ihr beim Packen beratend zur Seite stand und ihr an diesem zweiten Tag der Tour ein paar Kilo abgenommen hat. „Noch nicht“, gibt sich Marcel zuversichtlich, Nora in den verbleibenden Wochen noch rumzukriegen und sie für die Ziele der Naturschützer zu begeistern.

Sich zu engagieren, sei ihr keineswegs fremd, wehrt sich die bekennende Katholikin, die Ende Mai das Ergebnis ihrer Abiprüfung erfährt und im Herbst eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten beginnen wird. Nur sei sie bislang stets in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv gewesen. „Und da geht es eher weniger um Umweltfragen“, erzählt Nora. In der Ferne gewahrt sie erstmals die Konturen des Braunkohlekraftwerks Weisweiler und kramt daraufhin flugs die Videokamera unter ihrer Regenjacke hervor, mit der sie die Reiseerlebnisse für den Wettbewerb dokumentiert. Noras Bekenntnis ist Wasser auf die Mühlen ihres Kontrastprogramms. Marcel absolviert gerade eine Ausbildung zum Fachinformatiker und ist bereits seit seinem 14. Lebensjahr in der BUNDjugend aktiv. „Sogar die Kirchen haben doch inzwischen als Thema die ‚Bewahrung der Schöpfung‘ entdeckt“, frotzelt er. Doch Nora hat mit derlei Sticheleien kein Problem. Ihr ist klar, dass ein erfahrener BUNDjugend-Aktivist wie Marcel in Zeiten, in denen das Interesse für Umweltthemen abnimmt, versuchen soll, sie für ein Engagement im BUND zu gewinnen.

Tatsächlich sei es kein Zufall, dass „eine von außen“ wie Nora Anschütz mit einem BUNDjugend-Aktiven den „Lauf der Kontraste“ unternimmt, bestätigt Projektleiterin Milena Pendzich. Sie betreut das Tagebuch der beiden auf der „Kontraste“-Homepage und koordiniert eine für heute geplante Aktion der beiden vor dem Kölner Dom. „Ziel des Projekts ist es, das ehrenamtliche Engagement von Jugendlichen in NRW zu fördern“, sagt Pendzich, deren Organisation in NRW gut 1.500 Mitglieder zählt. „Dabei müssen wir heutzutage dort ansetzen, wo es Spaß macht. Wir wissen: Wenn es nach dem Wettbewerb an die konkrete Arbeit geht, ebbt die anfängliche Begeisterung schnell wieder ab.“

Kurz vor Weisweiler: Aug‘ in Aug‘ mit der „Dreckschleuder“ und den Strommasten, die hier die Landschaft durchziehen. Der Kontrast zwischen dem Kraftwerk und dem Windpark jenseits der Inde macht dem Disput der beiden ein Ende. Nora und Marcel staunen über den RWE-Riesen im Braunkohlerevier. Wie Marcel, der als Erstwähler „selbstverständlich die Grünen“ wählte, hat auch Nora „Schiss, was hier künftigen Generationen hinterlassen wird“. Sie hat gelesen, wie der Tagebau ganze Landstriche veröden lässt und das Grundwasser beeinträchtigt. Und bereits zehntausende Menschen vertrieben hat. Für Marcel steht fest: „Die Politik will es immer nur aktuellen Wählern recht machen.“ Umso wichtiger sei es, doziert er, „dass Bürgerinitiativen, Kirchen und Kommunen gemeinsam gegen das Verheizen der Heimat und für eine zukunftsfähige Energiegewinnung kämpfen“.

Das kann Nora, die 2005 die Kanzlerin gewählt hat, unterschreiben. Sie schwenkt die Kamera vom Kraftwerk in Richtung Marcel, der sich just in diesem Moment von seinem Minikompass Orientierung erhofft. „Marcel, wo werden wir übernachten“, fragt Nora. Weiß er nicht. Aber das ist ja das Spannende.

Infos: www.kontraste-nrw.de