In der Sprache eingeschlossen

Vom Verstehen der Worte und der Menschen: Auf der gut besuchten Literaturwoche Prenzlauer Berg werden aufmerksam die Ohren gespitzt – auch bei fremden Sprachen

Es begann 1997: Die drei Autoren, die in der ersten Literaturwoche Prenzlauer Berg lasen, wohnten um die Ecke. 12 Stände verstopften den Gehweg vor dem Georg-Büchner-Buchladen. Neun Jahre später hat sich die Teilnehmerzahl vervielfacht, und die Reisewege der Autoren sind mächtig gewachsen.

Zu den Gästen gehört Vikram Seth, der die Literaturwoche mit einer Viertelstunde Verspätung eröffnete. Das Sonntagsläuten der Immanuel-Kirche war zu laut. In der Bibliothek am Wasserturm stieg Vikram Seth vom Podium, lief durch die voll besetzten Reihen und entschuldigte sich dafür auf Deutsch und Englisch. In seinem Roman „Zwei Leben“ beschreibt Seth die Geschichte seines indischen Onkels Shanti und seiner Tante Henny, einer Berliner Jüdin, die ihn Deutsch lehrte.

„Retourkutsche“ war eine seiner ersten Vokabeln. Seth erzählt – immer zwischen den Sprachen springend – wie das Deutsche ihn der vorher unbekannten Tante näher brachte und wie es ihn mehrere Jahre lang anwiderte – nach der Recherche für den Roman in den Archiven von Jad Vaschem. Jetzt kann er wieder vom Deutschen schwärmen als dem Klang von Hölderlin.

Dienstagabend ist der Georg-Büchner-Buchladen überfüllt. Stehplätze kosten nur die Hälfte, verursachen aber Rückenschmerzen. Pascal Mercier aus der Schweiz liest aus einem „Roadmovie für Intellektuelle“. Es ist die Geschichte des Altphilologen Raimund Gregorius, der durch die Lektüre des Buchs „Ein Goldschmied der Worte“ aus der Bahn geworfen wird. Er steigt in den titelgebenden „Nachtzug nach Lissabon“, um den Autor des Werkes zu suchen. Es seien die Worte und die Charaktere, die einen Roman ausmachen, doziert Mercier, der unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri Philosophieprofessor an der FU-Berlin ist. Er wolle die Verwandlung Gregorius’ vom Wortversteher zum Menschenversteher nachvollziehen. Ob das gelingt, fragt jemand von den billigen Plätzen. Mercier erklärt, was ein offenes Ende ist. Zum Schluss hält er ein Plädoyer für gute Erziehung: „Sprache und Fantasie sind der Ursprung der Zivilisation“, und klopft im Takt auf den Tisch, „Wer seinen Kindern das nicht vermittelt, darf sich über Pisa nicht wundern“. Die alten Damen zu seiner Linken applaudieren, die jüngeren Zuhörer nicht.

Der serbische Dichter Bora Ćosić betrachtet Berlin von außen. In seinem Gedichtband „Irenas Zimmer“ beschreibt der 1932 in Zagreb geborene Exilberliner die Stadt im Spiegel der Vergangenheit – der historischen und persönlichen. Er liest auf Serbisch. Weiche Zischlaute, rollende Rs und spitzmündige Üs plätschern dahin und lullen die Zuhörer ein, die kein Serbisch verstehen. Dazwischen blitzen einzelne deutsche Wörter auf: uliza Bleibtreu, Tiergarten, Auschwitz. Die Übersetzung enthüllt die gehörten Rätsel. Doch die deutschen Wörter klingen hölzern, fast grobschlächtig im Vergleich zum Original.

Der Titel ist eine Widmung an die 1930 in Belgrad geborene Irena Vrkljan. Auch sie lebte in Berlin, verschloss sich jedoch im inneren Exil. Ćosić will die Stadt für sie entdecken, in der er seit zwölf Jahren lebt. Er spricht kein Deutsch. Warum, das traut sich an diesem Abend niemand zu fragen. Vielleicht ist es Selbstschutz, um den Außenblick zu bewahren. Wie Irena, die ihr Zimmer nicht verließ, verbleibt Ćosić in seiner Muttersprache.

„Der Bezirk war schon zu DDR-Zeiten eine Literaturhochburg“, sagt Werner Grunwald, Bibliothekar und Mitbegründer des Vereins Literaturort Prenzlauer Berg. Neben Schriftstellern, Übersetzern und Lektoren, die hier wohnen, haben sich viele Verlage um Wasserturm, Kollwitz- und Helmholtzplatz angesiedelt. Zusammen mit Sabeth Vilmer und Detlef Bahr vom Georg-Büchner-Buchladen entwickelte Grundwald die Idee der Literaturwoche – aus dem Kiezfest wurde ein internationales Literaturfestival. Für den Literaturpreis Prenzlauer Berg, der am Samstag zum fünften Mal vergeben wird, kam dieses Jahr sogar eine Bewerbung aus Neuseeland. Nominiert werden aber nur deutsche Texte. Das abschließende Literaturfest am Sonntag ist der Kinder- und Jugendliteratur gewidmet. Werner Grunwald lacht: „Schließlich ist das auch der kinderreichste Bezirk der Stadt“. LEA STREISAND

Weiteres Programm unter www.literaturortprenzlauerberg.de