Leidige Lücke gestopft

U6 WÄCHST WIEDER ZUSAMMEN

Ob der Schreier jetzt weiterzieht? Jener Mann, der mit Rucksack, Barett und loderndem Blick seine Runden dreht und mit Stentorstimme vielsprachiges Revolutionskauderwelsch verkündet? Das Datum seines ersten Erscheinens an der oberen Friedrichstraße ist nicht belegt, aber die Vermutung liegt nahe, dass es mit der Unterbrechung der U6 zu tun hatte. Denn die leidige Lücke, die anderthalb Jahre in der Linie klaffte, bescherte ihm Tag für Tag das perfekte Publikum: Abertausende Fahrgäste, die gezwungen waren, im Pulk eine Station zu laufen. Damit ist es ab Sonntag – endlich! – wieder vorbei.

Rückblickend verlief dann doch alles recht zügig, so wie das Leben ja überhaupt. Die gelben Fußstapfen, von den Verkehrsbetrieben zur Orientierung aufs Trottoir geklebt, wurden unter Millionen Schritten bald stumpf. Man hastete stur geradeaus, Dorotheenstraße, ignorierte die rote Ampel, Mittelstraße, umkurvte Touristengrüppchen, Linden, staunte über den Baumaschinenwald über dem neuen Bahnhof, Französische, ließ wartende Autofahrer schwarz werden und tauchte wieder unter die Straße ab. Oder andersrum.

Man muss der BVG nochmals ausdrücklich danken, den Zeitplan eingehalten zu haben. Länger wäre die tägliche Prozession, wären die strunzlangweiligen Fassaden, die H&Ms und Starbucks nicht zu ertragen gewesen. Auch die meisten Straßenkünstler am Rande der Strecke waren unterste Schublade. Richtig witzig kamen eigentlich nur die Tramps rüber, die ihr Lager einmal für ein paar Tage an der Linden-Ecke aufschlugen: „Kleine Spende für Alkohol“ hatten sie auf eine Pappe gekritzelt und „Wir sind wenigstens ehrlich“. Wenn man sie ablichteten wollte, hielten sie grinsend ein weiteres Schild in die Kamera: „Foto 270 Euro“. CLAUDIUS PRÖSSER