ein glied kann eine brücke sein von WIGLAF DROSTE
:

Athen ist die Austragungsstätte des Grand Prix Eurovision 2006, und klassisch wie der Ort sind die Wurzeln dieser beliebten Gliedertafel. Zu den berühmtesten Teilnehmern zählt Johann Wolfgang von Goethe; mit seinem späteren Hit „Wanderers Nachtglied“ räumte er kräftig ab. Der Auftritt des Geheimrats, der mit einer vorn befestigten Taschenlampe durch Nacht und Tann und Forst strummselte, begeistert Fachleute wie Publikum bis heute. Goethes Thema griff später Marianne Rosenberg noch einmal auf: „Glieder der Nacht, für uns gemacht, a-ha, sie können uns so viel bedeuten.“

Ein Glied geht um die Welt, vielfältig sind seine Traditionen: „Singet dem HErrn ein neues Glied“, ermuntert uns schon Psalm 149. Wir kennen das Nibelungenglied, das Minneglied, das geistliche Glied, das venezianische Gondelglied. „Wer hat dieses Gliedlein erdacht?“, heißt es in „Des Knaben Wunderhorn“ – „Wer hat mein Glied so zerstört?“, fragte indes Daliah Lavi. Bettina Wegener tränenbottichte: „Wenn meine Glieder nicht mehr stimmen“; ihre ebenfalls eher schlicht gestrickte Kollegin Nena versprach leichthin: „Hast du etwas Zeit für mich, dann singe ich ein Glied für dich.“

Menschen von gehobener Kultur verehren das Schumann- wie das Schubertglied nicht minder als Mendelssohn-Bartholdys „Glied ohne Worte“. Alles formt sich zum Gliede, das uns als Kunstglied erscheint, als Kirchenglied, als Volksglied. Gern singt mancher das „Glied an den Mond“ und träumt von Gliedern aus uralten Zeiten. Stark in Mode ist das A-cappella-Glied, roh und zackig ertönt das Trinkglied: „Ein Glied, zwo, drei, vier.“ Mit Temperament und Feuer erfreut uns das Zigeunerglied, froh erschallt das Glied zur Gitarre, sacht lullt das Wiegenglied. Fündig werden wir in den gesammelten Kindergliedern. Heiter stimmt das beblümte Frühlingsglied, besinnlich das Weihnachtsglied, schön verpackt und mit einem Schleifchen verziert.

„Leise flehen meine Glieder“, singt man in der Gliederhalle, zu Tränen rühren Liebes- und Abschiedsglied. Klitzeklein und schüchtern ist das Friedensglied. Wuchtig, transparentbehangen und wie eine Eins steht das Protestglied, verwandt dem Solidaritätsglied und dem Arbeiterkampfglied, das im „Einheitsfrontglied“ von Brecht und Weill zu seiner höchsten Form findet. „Nur böse Menschen haben keine Glieder“, sagt der Volksmund; längst ins internationale Gliedgut eingegangen ist die Musik von Ennio Morricone: „Spiel mir das Glied vom Tod“.

Heinrich Heine, der das „Buch der Glieder“ verfasste und versprach, „ein neues Glied, ein besseres Glied“ dichten zu wollen, konnte bei einem Grand-Prix-Wettbewerb niemals reüssieren. Mehrfach schied er bereits in den nationalen Vorentscheidungen aus. Die Begründung lieferte der deutsche Grand-Prix-Lobbyist und -Adabei Thomas Hermanns nach: „Grand Prix geht ohne Patriotismus nicht.“

Dabei ist das Glied an sich nicht patriotisch, nicht heimisch. Sogar Jürgen Marcus wusste das – und sang es auch: „Ein Glied zieht hinaus in die Welt.“ Thomas Hermanns aber fällt beim Grand Prix in Athen in die Kategorie „Glieder, die die Welt nicht braucht“. Und bekommt deshalb unmissverständliche Order: Glied aus!