Körper ohne Seele

Jens Lehmann spricht nach seiner Roten Karte im Endspiel der Champions League, das Barcelona gegen Arsenal London mit 2:1 gewonnen hat, von seiner Fähigkeit, Dinge verdrängen zu können

„Ich hatte noch eine kleine Chance gesehen,an den Ball zu kommen“

AUS PARIS RAPHAEL HONIGSTEIN

Durfte er? Jens Lehmann schien sich nicht ganz sicher. In englischen Pokalendspielen, das wusste er vom vergangenen Jahr, als Mitspieler José Antonio Reyes in Cardiff vom Platz geflogen war, werden Rotsündern die Medaillen verwehrt. Gab es diese Regel auch in Europa? Nein. Die Uefa erwies sich als weniger drakonisch. Oder sie hatte diese Eventualität vielleicht gar nicht bedacht, denn Lehmann war ja der erste Spieler überhaupt, der in einem Champions-League-Finale des Feldes verwiesen wurde. Nun, Verbandspräsident Lennart Johansson war es einerlei. Er schüttelte dem Deutschen freundlich die Hand.

Gleich würde es unglaublich bunt und laut werden, Lehmann aber wollte nur noch übersehen werden. Er trug ein graues Sweatshirt; seine langen Arme, die in der 17. Minute Samuel Eto’o so fatal umgerissen hatten, versteckte er hinter dem Rücken. Der große, breite Mann – er war zu einem dünnen Strich geworden. Als vertikales Minuszeichen betrat er das Siegerpodest; er stand also dort, wo er es sich vorher erhofft hatte. Nur leider zu früh. Den Pokal bekamen die Katalanen. Es war Lehmanns Schicksal, an diesem Abend immer zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. „Einen Tick zu spät“ war er nach eigener Aussage gegen Eto’o gekommen, das mistiming resultierte in einer ungewollten Notbremse. „Ich hatte noch eine kleine Chance gesehen, an den Ball zu kommen“, sagte er hinterher. Jedes einzelne Wort kostete Überwindung. Er stand vor den hunderten Journalisten in der Mixed Zone immer noch ein bisschen neben sich, wenn auch schon etwas näher als unmittelbar nach Terje Hauges Pfiff. „Meine Seele hat meinen Körper verlassen“, erzählte er ohne Pathos in der Stimme.

Den Großteil des Matches hatte er auf der Ehrentribüne verbracht, mit zwei seiner Kinder auf den Knien. Er hielt sie ganz fest und nahm scheinbar keinen Anteil mehr am Geschehen; während um ihn herum die Familienmitglieder und Freunde der Arsenal-Spieler eine knappe Viertelstunde vor Schluss der Jubelfeier entgegenfieberten, war der 36-Jährige wie in Trance. Nicht mal nach Bellettis Siegestreffer (81.) regte er sich. In der Kabine, es stand 1:0, hatten ihm Kollegen zuvor in der Pause auf die Schulter geklopft, „sie haben gesagt, es war die richtige Entscheidung, weil ich das Tor verhindert habe. Im Nachhinein war es aber doch die falsche Entscheidung.“ „Besonders traurig“ fand er die Tatsache, dass Eto’os Ausgleich (76.) eine Abseitsstellung vorausgegangen war.

Thierry Henry dagegen flüchtete sich wie sein Trainer Arsène Wenger („Es ist schwierig, eine Entscheidung zu akzeptieren, die auf falschen Entscheidungen beruht“) in die Polemik. „Der Schiedsrichter hätte ein Barcelona-Trikot tragen sollen“, sagte der Kapitän, „ich bin normalerweise kein troublemaker, aber so zu verlieren, mit zehn Mann, bringt dich um. Der Linienrichter muss beim 1:1 nur seine Fahne heben. Márquez und Puyol haben mich zweimal übel getreten, der Schiedsrichter hat nichts gesehen. Es tut mir im Herzen weh, dass wir verloren haben.“

Dabei hätte der Franzose den Pokal höchstpersönlich für seine aufopferungsvoll kämpfende Mannschaft gewinnen können. Zweimal war er frei vor Victor Valdés aufgetaucht, beim ersten Mal (2.) hielt Barcas Torwart hervorragend, beim zweiten Mal, (68.), der wahren entscheidenden Szene des Spiels, schoss er dem Keeper den Ball genau in die Arme. „Ich hatte schon nach einer Stunde keine Kraft mehr“, sagte Henry dazu, „spielen Sie mal alleine im Sturm. Ich habe versucht, den Ball hart zu treffen, aber er hat sich gar nicht bewegt.“ Henry hatte in der Tat viel gearbeitet, er war im Stade de France keineswegs untergetaucht wie in früheren Champions-League-Begegnungen, aber zur außergewöhnlichen Leistung, dem Höhepunkt seiner Vereinskarriere, hatte es nicht gereicht. Henry und Arsenal in Europa, das bleibt ein unerfülltes Versprechen, wohl für immer. In Kürze dürfte er seinen Wechsel zu Barcelona bekannt geben.

Für Lehmann geht es weiter, bei Arsenal und natürlich auch bei der WM. Im Fußball, das ist ein großer Trost, dürfen die Toten bald wieder auferstehen. Arsenals Torwart erklärte, er sei „gut im Verdrängen“, wurde jedoch das mulmige Gefühl nicht los, dass etwas aus Paris „hängen bleiben“ könnte. „Dieses Spiel nehme ich wahrscheinlich mit ins Grab.“