Die Illusion vom Gemeinwesen

Über Geschlechter, Werkzeuge und den Schritt in eine andere Gesellschaft

Die Diskussion darüber, was wir als Frauen aus der Geschichte unserer Menschwerdung aneignen oder wieder aneignen wollten, hat uns zu einer radikalen Frage gebracht: Ist es eigentlich möglich, dass Frauen im Durchschnitt keine menschlichen Wesen sind? Wie können wir begreifen, dass ein Geschlecht, das männliche, sich im Wesentlichen auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts durch Werkzeuge entwickelte und verwirklichte (wie entfremdet das auch vorzustellen ist), während das weibliche an dieser Entwicklung wenig teilhatte, ihr menschliches Wesen also nicht in dieser Richtung sich aneignete?

Kein Lernen, keine Erfindung, kein Werkzeug. Selbst wenn wir in der Geschichte erfinderische Frauen finden – wie etwa Marie Curie oder Lise Meitner –, war ihre Zahl zum Verschwinden weit weg von der Hälfte. Vieles in der Geschichte, insbesondere alles, was schiefgelaufen ist in den Erfindungen bis zur Hochtechnology, spricht dafür, dass es dem Überleben der Menschen dienlich ist, wenn nicht alle den technologischen Fortschritt als ihren eigenen Entwicklungsweg einschlagen. Jemand muss schließlich die fürsorgende Arbeit am Rande der Gesellschaft übernehmen.

Die Menschheit konnte überleben und sich über die gesamte Erde verbreiten, weil die Menschen die Reproduktion der Art, also Fortpflanzung und das Großziehen von Kindern, als kooperatives Unternehmen betrieben. Die Entwicklung des Sozialen, die Fürsorge füreinander, waren eigene Entwicklungspfade, die die Menschheit erfolgreich eingeschlagen hat. Aber so verführerisch das auch für weibliche Ohren klingen mag, es fehlt die Verschränkung im Fernziel – nämlich wie die Aneignung menschlicher Fähigkeiten über die Werkzeugherstellung mit der Entwicklung des Sozialen verknüpft ist, so dass etwas menschlich Mögliches und auch Begrüßenswertes herauskommt.

Nehmen wir an, dass das Verhalten der Menschen zueinander nicht auf ursprünglicher Naturstufe bleibt, sondern humane Entwicklung erfährt. Zur Geschichte der Entwicklung der menschlichen Sinne, zu denen das Lieben zählt, gehört also das gesamte Feld des menschlichen Miteinanders. Der Bereich des Sozialen als Teil des Umgangs mit der Natur muss zusammengefügt werden mit der Entwicklung über die Werkzeugherstellung, und er muss extra behandelt werden, weil die Entwicklung der Bereiche in den jeweiligen Produktionsverhältnissen getrennt geschieht. Zu untersuchen ist demnach ein Trennungszusammenhang: Die Entwicklung der Fürsorge gehört zwar nicht zum kapitalistischen Projekt des Profitmachens, muss als unabdingbare Grundlage aber erledigt werden.

Das wurde weitgehend extra von Frauen in Familien erledigt, mit dem Resultat, dass Familien als Fluchtburgen vor den Verhältnissen in der gesellschaftlichen Lohnarbeit verklärt wurden. Isolierte Orte, an denen Frauen die Realisierung der Hoffnungen auf Glück abverlangt wurde. Sie verkörpern mithin ein illusionäres Gemeinwesen. Mit der Realität ihrer Lebenslagen hat das allerdings wenig gemein. Aus der Geschichte der Trennungszusammenhänge können wir schlussfolgern, dass beide Geschlechter sich im umfassenden Sinn ihr „menschliches Wesen“ nicht aneignen, sondern wir uns weiter in der Vorgeschichte der Menschheit finden. Umfassende Aneignung würde andere Menschen hervorbringen, zukünftige, nicht Männer und Frauen im sozialen Sinn.

Zwei Problemfelder wären zu erforschen: Wir können historisch verfolgen und belegen, dass Frauen tatsächlich von Wissen und Können in den meisten männlichen Entwicklungspfaden ausgeschlossen waren, teils noch sind. Ist es also an der Zeit, dass kompensatorische Erziehung und die entsprechenden Räume hier ausgleichend geschaffen werden, sodass Frauen den Männern ähnlich bis gleich werden? Dieser Gedanke bestimmt Reformpolitik.

Er hinterlässt allerdings die Frage, wieso er trotz etwa hundertjähriger Übung zwar in vielen Bereichen Änderungen erbrachte, aber Frauen den Männern nicht nachhaltig sozial angleichen konnte. Der soziale Bereich, ohne den kein Überleben gesichert ist, bleibt ein vernachlässigter Bereich von Frauen. Aber wäre dies eine Möglichkeit menschlicher Entwicklung, dass beide Geschlechter sich des Werkzeugsektors und des fürsorgenden zu gleichen Teilen annähmen, eine Art polytechnisch-sozialer Ausbildung? Dass sie sich ihr menschliches Wesen in zwei Richtungen gemeinsam aneigneten?

Bislang wurde wenig erforscht, wie menschlich-gesellschaftliches Sozialverhalten perspektivisch sein könnte, es wurde zur Spezialdisziplin für die Philosophie der Ethik, von wo aus es, wieder von Männern betrieben, in der Form von Erziehungslehren und kirchlich empfohlener Ethik auch das Alltagsverhalten regelt. Das Auseinander der Bereiche– Werkzeugentwicklung bis zur Hochtechnologie und Ethik menschlichen Miteinanders – treibt eigentümliche Blüten, wie Ethikkommissionen für die Stammzellforschung.

Wie aber lässt sich die Frage nach der Aneignung des menschlichen Wesens durch den weiblichen Teil der Menschheit weitertreiben? Gehen wir davon aus, dass ein schwierig balanciertes Miteinander den bisherigen Entwicklungsgang menschlicher Vergesellschaftung bestimmte, in dem Frauen die Unterlegenen und zugleich Lebensnotwendigen waren und sind, und dass dieses Gleichgewicht stets gefährdet und umkämpft ist, so können wir davon ausgehen, dass es gar keine perspektivische Lösung gibt, kein Fernziel, in dem nicht beide Geschlechter angerufen und beteiligt sind, umfassend Herrschaftsfesseln abzustreifen, beide zu gewinnen und zu verlieren haben.

Zugleich können wir annehmen, dass unsere Fragen nach menschheitlicher Entwicklung komplizierter werden müssen. Nicht kompensatorische Erziehung in die eine oder andere Richtung, sondern Wegarbeiten der wechselseitigen Stützung und Blockierung, um überhaupt Raum und Zeit zu finden, sich menschliche Wesenskräfte anzueignen, in menschlicher solidarischer Liebe und Fürsorge und Entfaltung der erfinderischen Kräfte das Leben und seine Bedingungen zu ermöglichen und zu verbessern.

Unsere Initiativen können weder „Frauen in Männerberufen“ befürworten noch „Gender-Mainstreaming“, schon gar nicht einfache Gleichstellung, die wir dann als Gerechtigkeit feiern. Weil in den bisherigen Geschlechterverhältnissen Zustimmung zu herrschaftlichen Produktionsverhältnissen so hergestellt wurde, dass die Ausschließung des weiblichen Teils als sinnvolles Leben legitimiert und von beiden Geschlechtern stets reproduziert wurde, werden praktisch beide Geschlechterformen neu kulturell und praktisch gefasst und erfahren werden müssen. Dies wiederum ist bereits ein Schritt in eine andere Gesellschaft. Die Fragen der Geschlechterverhältnisse verschränken sich mit denen der Ökologie und der Demokratie. Es muss also „eine Lehre erarbeitet“ werden, um mit Gramsci zu sprechen , in der alle diese Kräfte in Bewegung sind und sichtbar wird und verstanden werden kann, wie die sie tragenden Verhältnisse unheilvoll verschränkt sind, so dass sie sich wechselseitig in notwendiger Befreiung behindern. Zu studieren sind dann insbesondere Ungleichzeitigkeiten, also nicht nur, wie stark die Blockierung ist, sondern vor allem, wie es gelang, sie zu lösen.

Dabei gehen wir davon aus, dass die herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine Gewähr dafür sind, dass die Sache weiterläuft. Sie setzen voraus, dass das Leben weitergeht, dass also Menschen gemacht werden, die notfalls füreinander sorgen, schlimmste Verwahrlosung verhindern. Gesetze umstellen diesen Gang, sodass zur Sorge auch gezwungen werden kann, unentgeltlich, wer überhaupt lebt. In der Krise erst werden solche umfassenden Fragen nach Veränderung stellbar.