Ankara demonstriert für den Laizismus

Tausende geben dem bei einem Attentat getöteten Richter das letzte Geleit. Premier glänzt durch Abwesenheit

ISTANBUL taz ■ Die gestrige Beerdigung des tags zuvor von einem islamistischen Attentäter getöteten Obersten Verwaltungsrichters der Türkei geriet zu einer Demonstration für die laizistische Verfasstheit des Landes. Tausende Menschen waren rund um die Straßen der Kocatepe-Moschee im Zentrum Ankaras versammelt, wo am Nachmittag der Leichnam des getöteten Richters Mustafa Yücel Özbilgin aufgebart worden war und der Familie kondoliert wurde. Während die Spitzen der Staatsbürokratie, die Vorsitzenden fast aller großer Parteien und demonstrativ der gesamte Generalstab des Landes angetreten war, fehlte genauso demonstrativ Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Für ihn war Außenminister Abdullah Gül erschienen, der von der Menge vor der Moschee mit Buhrufen empfangen wurde.

Als der stellvertretende Parteivorsitzende der AKP, Hayati Yazici, telefonisch im Nachrichtenkanal NTV befragt wurde, warum Erdogan nicht zur Beerdigung gekommen sei, machte dieser wichtige Termine des Ministerpräsidenten geltend. Erdogan war in Antalya, um eine Straße einzuweihen, und sollte gestern Abend an einer Veranstaltung der örtlichen Parteijugend teilnehmen. „Das Leben geht weiter“, sagte Yazici auf NTV, „der Premier kann nicht überall sein“.

Die Präsidentin des Obersten Verwaltungsgerichts hatte bereits am Morgen mit den Richtern des Obersten Berufungsgerichts und des Verfassungsgerichts eine Erklärung abgegeben, in der der Regierung eine indirekte Mitschuld an dem Attentat gegeben wurde, weil Ministerpräsident Erdogan die Rechtsprechung des Gerichts zum Kopftuch scharf kritisiert hatte. Wörtlich heißt es in der Erklärung, einige Politiker hätten durch „verantwortungslose Stellungnahmen“ zu der Gewalttat beigetragen.

Die gestrige Beerdigung demonstrierte vor allem, welcher Riss mitten durch die türkische Gesellschaft geht. Bereits am Vormittag hatten sich spontan mehr als 20.000 Menschen am Atatürk-Mausoleum im Zentrum Ankaras versammelt, wo die Richter zum Gedenken ihres ermordeten Kollegen einen Kranz niederlegten. Die Menge, die stundenlang am Grab des Staatsgründers ausharrte, skandierte laizistische Parolen, um zu unterstreichen, dass sie eine Islamisierung der Türkei nicht hinnehmen werde. Unter der Menge waren auffallend viele Frauen, doch es war kein Kopftuch zu sehen.

Hürriyet, die größte Zeitung des Landes, bezeichnete den Anschlag auf das Gericht gar als den 11. September der türkischen Republik. Alle großen Zeitungen fordern Konsequenzen, wodurch Erdogan und seine Regierung immer mehr unter Druck geraten. Gegen den islamistischen Terror müsse das Land sich endlich stärker zur Wehr setzen, wird gefordert. Die Polizei hat unterdessen neben dem Attentäter, dem 29-jährigen Anwalt Alparslan Aslan, vier weitere Männer verhaftet. Mit zweien soll Aslan vor der Tat noch telefoniert haben, zwei saßen angeblich in Aslans Auto vor dem Gericht, als dieser drinnen auf die Richter feuerte. JÜRGEN GOTTSCHLICH