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Geist ist Natur

Lebenserinnerungen ans Gehirn: Die Autobiografie des Nobelpreisträgers für Medizin und Physiologie, Eric Kandel, ist auch eine Einführung in das Abenteuer der Neurowissenschaften

Eric Kandel weist auch nach, wie geistige Vorgänge biologische Veränderungen produzieren

VON ROBERT MISIK

Was wäre die geisteswissenschaftliche Tradition ohne das Vorurteil, Geist und Natur stünden sich gegenüber, wenn schon nicht als Antipoden, so doch als getrennte Welten? Die neueste Hirnforschung ersetzt dieses Geist-versus-Natur-Theorem nun durch das Postulat: Geist ist Natur. Mein Fühlen, mein Denken, meine Macken, meine Erinnerungen – nichts als biochemische Vorgänge in neuronalen Schaltkreisen. Dieser Artikel: Produkt neuronal determinierter Abläufe. Das Vertrackte daran ist freilich: Dennoch steht für den Autor der Schlusssatz in diesem Moment noch nicht fest.

Wenn wir schon dabei sind: Sollten Sie sich in zehn Minuten noch an einen Satz in diesem Text erinnern können, dann deshalb, weil zusätzliche synaptische Verbindungen zwischen Gehirnzellen gelegt wurden; und wenn Sie morgen davon noch etwas „im Kopf“ haben, dann, weil der Kern dieser Gehirnzellen ein Protein produzierte, welches diese synaptischen Verbindungen überdauern lässt. Warum Sie aber womöglich diesen Artikel im Gedächtnis behalten und nicht einen auf, sagen wir, Seite 8, das kann die Gehirnforschung noch nicht restlos erklären – bis dahin darf ich als Autor dem Glauben anhängen, der Unterschied habe etwas mit Qualität zu tun. Eines ist jedoch klar: Wenn Sie etwas im Gedächtnis behalten, dann hat dieser Artikel die Anatomie ihres Gehirns verändert.

All dies klingt irgendwie bedrohlich, ist eine narzisstische Kränkung für das Ich, das denkt, es sei nicht Herr im eigenen Haus – deshalb wird die Gehirnforschung immer häufiger auch Gegenstand feuilletonistischer Erregungen, wird die Frage mit großem Trara in den Raum gestellt, ob es denn so etwa wie „freien Willen“ überhaupt gibt. Die Geisteswissenschaft kommt um die Naturwissenschaft des Geistes jedenfalls nicht mehr herum.

Insofern erscheint die Autobiografie von Eric Kandel, Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie des Jahres 2000, gerade zur rechten Zeit. Der 76-jährige, der für seine wegweisenden Entdeckungen in der Gedächtnisforschung ausgezeichnet wurde, ist einer der führenden Gehirnforscher unserer Tage. Ein Wiener Jude, als Kind noch nach 1938 vertrieben, in die USA geflüchtet, will er zunächst Psychoanalytiker werden – beeinflusst vom Wiener Freundeskreis seiner Eltern. Als er sich für eine Laufbahn als Neurophysiologe entschied und auf die Forschung konzentrierte, so schreibt er, dann weil er wissen wollte, wo das Ich, das Über-Ich, das Es und das Unbewusste säßen. Tatsächlich hat Kandel bis heute dem psychoanalytischen Denken eine gewisse Treue gehalten – das Interesse für unbewusste mentale Vorgänge, die Dezentriertheit der mentalen Apparatur verbinden die Neurowissenschaft mit der Psychoanalyse.

Kandel beschreibt hundert Jahre Gehirnforschung als intellektuellen Krimi. In den vergangenen vierzig Jahren hat er daran mitgeschrieben. Heute wissen wir, auch dank Kandel, wie die Kommunikation zwischen Zellen verläuft, wo Informationen im Gehirn verarbeitet und wie sie gespeichert werden; wo das explizite Gedächtnis sitzt – also das, welches dem Bewusstsein zugänglich ist –, und wo das implizite, das für Routinehandlungen zuständig ist. Wir wissen auch, dass es im Gehirn keine „Kommandohöhe“ gibt, in der die eingegangenen Informationen zentral zusammengefügt werden – die Verarbeitung unterschiedlich lokalisierter Informationen zu einer kohärenten Wahrnehmung erfolgt eher in Form eines dezentralen Netzwerks, das spärliche neuronale Signale zu einem Muster, einem bedeutungsvollen Bild zusammenfügt. Wie, weiß kein Mensch.

Als Forscher, der sich auf das Gedächtnis spezialisierte, hat Kandel nicht nur zur Erforschung der biologischen Vorgänge in dem Organ beigetragen, das für den „Geist“ zuständig ist. Er hat zudem nachgewiesen, wie geistige Vorgänge biologische Veränderungen produzieren: dass Lernen neuronale Schaltkreise verändert. Wissen „ist“ eine anatomische Veränderung. Kandel beschreibt das in seiner Lebenserinnerung so amüsant, wie das bei dem Thema möglich ist. Immerhin, er lässt die Leser teilhaben an seiner nun schon jahrzehntelangen Freundschaft mit der Meeresschnecke Aplysia, an deren einfachen neuronalen Strukturen er wichtige Erkenntnisse gewann; und auch ein wenig an den Macken in der Scientific Community.

Wobei lockeres Geplauder nicht der Generalton ist, auf den diese Autobiografie gestimmt ist. Im Gegenteil: Kandel geht in seinem Buch an die Grenzen dessen, was auch ein interessierter Laie, also einer, der die Motivation mitbringt, etwas Neues zu lernen, begreifen kann (und streckenweise über diese Grenzen hinaus). Er belohnt die Mühe mit etwas mehr verständigem Staunen über die Maschine Hirn, die durch einige Millionen zarter sensorischer Nervenfasern mit der Welt „dort draußen“ verbunden ist, dieses wunderliche Organ, das über sich selbst nachdenken kann – und sich dabei auch noch verändert.

Das mag eine schwer erträgliche Vorstellung für manche Menschen sein, die mehr sein wollen als „bloße“ Materie. Können die persönlichsten Erfahrungen und moralische Werthaltungen durch stabile Synapsenverbindungen erschöpfend erklärt werden? Darum dreht sich schlussendlich die grassierende Debatte über den „freien Willen“. Ein Scheinproblem, denn auch wenn biochemische Vorgänge das begründen, was wir Subjektivität nennen, so bleibt letztere eben doch Subjektivität.

Die Gehirnforschung ist jene Spannungszone, in der sich Natur- und Geisteswissenschaften begegnen. So kritisierbar es ist, wenn geisteswissenschaftliche Theoreme in der Kategoriensprache der Naturwissenschaften abgehandelt werden (wofür es eine lange Tradition gibt, man denke nur an das Gerede von „Naturgesetzen“ in der Wirtschaftstheorie), so fragwürdig sind auch die Abwehrhaltungen oder Ignoranz gegen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. Gegen beide intellektuelle Pathologien hilft die Beschäftigung mit dem Gegenstand. Eric Kandels Erinnerungen an die Entstehungsgeschichte der Biologie des Geistes ist dafür eine hervorragende Handreichung.

Eric Kandel: „Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes“. Siedler Verlag, Berlin 2006, 450 S., 24,95 €

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