: „Westlicher geht es nicht“
Als Star an der Sitar tritt Anoushka Shankar in die Fußstapfen ihres Vaters Ravi. Ein Gespräch über das familiäre Erbe, die Bedeutung indischer Ragas und die Suche nach einer neuen Ost-West-Synthese
INTERVIEW MAX DAX
taz: Frau Shankar, Sie haben das Spiel der Sitar von Ihrem Vater Ravi Shankar gelernt. Wie muss man sich das vorstellen?
Anousha Shankar: Normalerweise kommen Virtuosen zu meinem Vater, die das Instrument in all seinen Ausdrucksmöglichkeiten bereits beherrschen, aber tiefer in die Musik eindringen wollen. Meine ersten Jahre bei ihm waren dagegen sehr methodisch: Ich lernte, meine Hände zu benutzen und verschiedene Ragas zu spielen. Nach und nach kamen immer neue Tonleitern und Harmonien hinzu, die mit der Sitar gespielt werden können. Denn die Sitar zu lernen bedeutet zweierlei: einerseits die Beherrschung des Instruments und andererseits das Erlernen der Musik, die mit der Sitar gespielt wird. Beides muss gleichzeitig erlernt werden, obwohl es sich um zwei unterschiedliche Dinge handelt.
Im Grunde ist das Erlernen der Sitar vergleichbar mit dem Studium anderer Instrumente – mit einem wesentlichen Unterschied: Für jedes andere Instrument gibt es Noten. Die indische Ragamusik jedoch ist eine aurale Tradition, die auf Erinnerung und Gehör basiert. Die Arbeit des Lehrers besteht darin, dass er eine Melodie vorsingt oder vorspielt – und der Schüler hat sie nach dem Gehör nachzuspielen.
Trainiert ein Lehrer also auch das absolute Gehör?
Das absolute Gehör steht im Idealfalle am Ende der Ausbildung. Denn nur mit einem absoluten Gehör können Sie die Ragaformen auseinander halten, die sich nur in Nuancen voneinander unterscheiden, und sie bewusst spielen. Sie müssen wissen: Die verschiedenen Tonleitern sind eine Sache, die man technisch lernen kann – auch wenn es so viele gibt und nicht nur eine wie in der europäischen Musik.
Kniffelig ist nur, dass den tausenden verschiedenen Ragas auch noch unterschiedliche Charakteristika und Stimmungen zugeordnet werden. Jeder Raga hat eine Bedeutung in der indischen Mythologie. Es gibt Ragas, die zu Ehren bestimmter Gottheiten ersonnen wurden. Oder Ragas, die als Oden an den Frühling oder den Monsun fungieren. Die indische Kultur ist so vielfältig und tief gehend – entsprechend komplex ist die Musik. Beherrschen Sie dieses Spiel mit den Zuordnungen nicht, verlieren Sie sich sofort – und sind dann hoffnungslos verloren.
Seit Ihrer Konzert-CD „Live at Carnegie Hall“, die vor fünf Jahren erschien, nimmt man Sie ebenso ernst wie Ihren Vater. Haben Sie sich damit in die Erste Liga der Sitarspieler gespielt?
Diese Aufnahme war vom ersten Augenblick an etwas Besonderes: Ich wusste, dass bereits Miles Davis, Nina Simone, mein Vater und so viele andere dort gespielt hatten, und habe versucht, der Musikgeschichte, die dort geradezu physisch spürbar ist, gerecht zu werden. Zugleich war ich gar nicht nervös, als ich die Bühne betrat. Daran erinnere ich mich noch genau: Ich wusste, es könnte ein bedeutender Karriereschritt sein. Aber ich ging auf die Bühne und fühlte mich wohl.
Sie sind solche Hallen gewöhnt, weil Sie schon als Kindheit mit Ihrem Vater auf der Bühne aufgetreten sind, oder?
Ich habe gemeinsam mit Ravi vor großem Publikum gespielt, da ging ich noch zur Schule. Ich habe sicherlich das große Glück gehabt, den steinigen Weg bis zu dem Punkt, an dem man wahrgenommen wird, einfach übersprungen zu haben. Ich war immer dort, wo andere erst hinkommen wollen.
Mein Vater und ich, wir spielen jetzt weit über elf Jahren zusammen und haben eine unglaubliche zwischenmenschliche Chemie entwickelt. Das ist für mich auch deshalb interessant, weil mein Vater ja einige der faszinierendsten Momente der jüngeren Musikgeschichte selbst miterlebt hat. Er verbrachte viel Zeit mit den Beatles, er spielte in Woodstock, er kann sich geradezu fotografisch an die Sechziger- und Siebzigerjahre erinnern.
Ihr Vater hat 1971 mit George Harrison auch das legendäre „Concert for Bangladesh“ organisiert. Was wissen Sie darüber?
Dieses Konzert war nicht nur ein unvergesslicher Abend. Zugleich war es das erste Benefizkonzert der Musikgeschichte, das eine solche mediale Außenwirkung hatte – nicht zuletzt wegen des wunderschönen Films, der dabei gedreht wurde. Erst später wurde es ein Trend, Benefizkonzerte zu veranstalten und diese gut zu dokumentieren. Denn nur durch die Dokumentation schafft man es, eine Weltöffentlichkeit nachhaltig auf eine spezifische Problematik aufmerksam zu machen – in diesem Fall die Not in Bangladesh.
Sie leben in den USA. Wie oft sind Sie in Indien?
Jedes Jahr, von Dezember bis März, halte ich mich den Winter über in Neu-Delhi auf. Ich reise dann meistens viel umher.
Bekommen Sie auf Ihren Reisen in Indien neue Einblicke in die Musik?
Ja. Letztlich geht es als Musiker immer darum, wie man mit seiner Umwelt in Kontakt tritt.
Sie kommen viel herum. Fühlen Sie sich privilegiert?
Die meisten Inder leben an einem bestimmten Ort, den sie Zeit ihres Lebens nicht verlassen. Das liegt auch an den unterschiedlichen Sprachen, die im Norden und im Süden gesprochen werden. Aber da meine Mutter aber aus dem Süden stammt und mein Vater aus dem Norden, hat sich dieses Problem für mich nie wirklich ergeben.
Auf Ihrem Album „Rise“ verschmelzen Sie indische Ragas mit westlichem Pop. Warum?
Nun, westlicher als in San Diego kann man nicht leben. So experimentiere ich mit indischen Melodien in westlichen Musikformaten – oder ich importiere gewissermaßen westliche Musikinstrumente als Begleitung in indische Kontexte. Ich fühle mich, was das angeht, manchmal wie eine Chemikerin, die versucht, neue Formeln zu finden.
Fühlen Sie sich einer neuen Generation zugehörig?
Ich betrachte mich definitiv als eine moderne Frau. Meine Lieblingsmusikerin ist Björk – weil sie fortschrittlich ist, vielleicht sogar so etwas wie ein role model für eine neue Avantgarde. Zugleich weiß ich nur zu gut, dass ihre Art von Karriere für mich nicht infrage kommt. Von ihr inspiriert zu sein heißt also nicht zwangsläufig, dass meine Musik mit einem Mal so klingen wird wie ihre.
Meine Experimente gehen eher in die Richtung, dass ich untersuche, wie weit sich die Ragamusik öffnen lässt – sei es für die Popmusik, sei es für ernste Musik.
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